Proseminar: Multikulturelle Gesellschaft Taiwan Leiter: Michael Rudolph (M.A.) Ort: Sinologisches Seminar der Universität Heidelberg Semester: WS 1996/97
Seit der Aufhebung des Kriegsrechts 1987 ist in
Taiwan bei voranschreitender Demokratisierung auch ein Aufleben
unterschiedlicher kultur-ethnischer Identitäten zu beobachten - die von der
GMD-Regierung in den vergangenen Jahrzehnten allgemein verbreitete
Auffassung, daß es sich bei allen auf Taiwan lebenden Menschen um 'Kinder und
Enkel des gelben Kaisers' (yanhuang zisun) handele, wird heute in vielen
Kreisen und Gruppen der taiwanesischen Gesellschaft zunehmend in Frage
gestellt. Ziel des Proseminars ist es, die Hintergründe des hier
angesprochenen Phänomens herauszuarbeiten: besprochen werden einerseits die
unterschiedlichen kulturellen Einflüsse Taiwans, anderseits aber auch die
Motivationen und Intentionen derer, die sich da für die Anerkennung des
Kulturenreichtums oder einer besonderen ethnischen Identität einsetzen.
Während die einen von 'längst fälliger Dekolonialisierung' reden und - oft mit
bestimmten politischen Vorstellungen oder Absichten - Kultur und Geschichte
bewußt neu konstruieren (Slogans und Büchertitel wie 'jiangou taiwan lishi'
und 'chuangzao taiwan xin wenhua' sind da bezeichnend), bringen viele andere
hiermit auch einfach das Bedürfnis zum Ausdruck, sich nach so vielen
Jahrzehnten kultureller Herabsetzung endlich wieder mit Stolz und
Selbstbewußtsein zu jenen Besonderheiten und Sprachen zu bekennen, die sie
selbst von ihren Mitmenschen, Nachbarn und Arbeitskollegen unterscheiden.
Nicht zuletzt aufgrund des exemplarischen Charakters soll bei der
Untersuchung dieses sich in ganz Taiwan vollziehenden Prozesses
kultur-ethnischer 'Reorienierung' die Rolle der malyo-polynesischen
Urbevölkerung Taiwans (yuanzhumin=YZM) besondere Beachtung finden. Es wird
sich zeigen, daß auch in diesem Falle die Suche nach alten und neuen
'Subjektivitäten' (zhutixing) aufs engste mit dem facettenreichen und im
Taiwan der 1990er Jahre sehr populären Projekt der 'Taiwanisierung'
(bentuhua) verbunden ist. Nicht überall und in allen Kreisen erfreut sich das
Projekt allerdings der angesprochenen Popularität. Auch aus diesem Grund
erscheint es opportun, die Situation der YZM-Gesellschaften als Referenz in
den Raum zu stellen. |