Neue Ahnenseelenopfer-Rituale bei Taiwans Ureinwohnern:

Notizen eines Feldforschungsaufenthaltes

von Michael Rudolph


(Ursprünglich 2003 veröffentlicht auf der Webseite des SFB 619 Ritualdynamik, Universität Heidelberg, Rubrik: Berichte)


Vorbemerkung

Bei dem hier vorgelegten Bericht handelt es sich um eine Auswahl von Eindrücken und ethnographischen Daten, die ich während meines letzten Feldforschungsaufenthaltes in Taiwan von Mitte Oktober bis Mitte Dezember 2002 sammeln konnte. Meine Forschungen galten der Frage, welche Auswirkungen der in den 1990er Jahren einsetzende taiwanesische Nativismus auf die Rituale der malayo-polynesischen Ureinwohner der Insel hatte. Ich hatte in dieser Zeit die Möglichkeit, die Rituale zweier Ethnien – i.e., der Ami und der Taroko – näher zu beobachten. Dieser Bericht gilt ausschließlich der bei den Taroko vorgefundenen Situation.


Einführung

Wohl kaum eine andere Stadt in Taiwan hat sich in den letzten Jahren so wenig verändert wie die Hafenstadt Hualian an der Ostküste der Insel. Fast ein bisschen verschlafen wirkt der Ort, wenn man aus dem quirligen Taibei nach vier Stunden Zugfahrt hierher gelangt. Im Westen von den steilabfallenden, regenwaldbestandenen Berghängen des 4000 Meter hohen Zentralmassivs begrenzt, erstreckt sich im Osten ein grenzenloser Pazifik, kilometerlange Strände säumen hier die Küste. Abgesehen von der seit den 60er Jahren angesiedelten Zementindustrie ist die Region - verglichen mit der hochindustrialisierten Westküste - relativ infrastrukturschwach und nur gering besiedelt: Im gesamten (gleichnamigen) Kreis Hualian leben nur ca. 360.000 Einwohner, die meisten von ihnen gehen auch heute noch der Landwirtschaft nach. Reis, Zuckerrohr, Bananen u. andere Südfrüchte gehören hier zu den Hauptanbauprodukten.

Seine Naturschönheit machte Hualian, das in unmittelbarer Nähe der Tarokoschlucht mit ihren marmornen Felswänden und heißen Quellen gelegen ist, bereits seit Ende der japanischen Kolonialherrschaft (1945) zu einem beliebten Touristenziel - eine Beliebtheit, die in der letzten Zeit nach Einrichtung der 5-Tage-Woche Ende der 90er Jahre sogar noch erheblich zugenommen hat. In den letzten Jahren wird Hualian allerdings auch noch wegen einer weiteren Attraktion verstärkt wahrgenommen: So leben hier neben den Han1 gleich drei der elf heute offiziell anerkannten Ureinwohner-Ethnien Taiwans,2 nämlich Ami, Atayal und Bunun. Waren die ‚ursprünglichen Bewohner Taiwans’ (Taiwan yuanzhumin), wie sie sich seit 1994 ethnien-übergreifend offiziell bezeichnen, bis Ende der 80er Jahre die wohl verachtetste und marginalisierteste Gruppe in Taiwans von den Han dominierter Gesellschaft überhaupt, so hat diese Wahrnehmung seit der Erstarkung eines ‚ganz-taiwanesischen Nativismus’ in den 90er Jahren einen bemerkenswerten Wandel erfahren: Heute kommt den Ureinwohnern - im Rahmen der Bestrebungen, die Eigenständigkeit einer spezifisch taiwanesischen Kultur gegenüber einer anderen chinesischen Kultur zu unterstreichen und auf diese Weise einer Inkorporation durch das chinesische Festland vorzubeugen - eine Schlüsselstellung zu. Als Träger einer Fülle kultureller Traditionen, die sich gänzlich von der überlieferten han-chinesischen Kultur unterscheiden, bezeugen diese Völker heute in eindrücklichster Weise die Absurdität des früher von der KMT gepflegten Mythos kultur-ethnischer Homogenität von taiwanesischer und chinesischer Bevölkerung und eröffnen zugleich den Blick auf Taiwans Geschichte, die von der Interaktion und Vermischung einer Vielzahl unterschiedlicher Ethnien und Kulturen geprägt ist.3


Karte Taiwans mit Verteilung der unterschiedlichen Ureinwohner-Ethnien


Es ist nicht zuletzt diesem neuen Fokus auf Taiwans ‚eigene’ Geschichte und Kultur zu verdanken, dass auch das abgeschiedene Hualian, das aufgrund der Vielzahl der hier friedlich miteinander koexistierenden Ethnien heute zu einem Inbegriff des multi-kulturellen Charakters der Insel geworden ist, inzwischen eine ganze Reihe von Bildungsinstitutionen vorweisen kann, die sich mit Ureinwohnerfragen befassen – ein Umstand, der jede Forschung in diesem Bereich ungemein erleichtert.4


Taroko-Ort bei Hualian (Aufnahme 2002)


Erste Berührungen mit den Taroko-Ritualen

Mit Hualian bin ich seit 1989 eng vertraut. Der Grund meines ersten Interesses war eine Studie zur Prostitution von Ureinwohnerfrauen, die ich bereits während meines Sprachstudienaufenthalts in Taibei begonnen hatte.5 Damals stammte eine hohe Zahl minderjähriger Prostituierter in Taibeis sexuellem Dienstleistungsgewerbe aus Ureinwohnergebieten. Als ethnische Gruppe besonders stark betroffen waren die Sedeq-Atayal bzw. die ‚Taroko’, wie sich die Atayal im Raum Hualian selber bezeichnen.6 Auffallend am Prostitutionsverhalten der Taroko war, dass hier offenbar Kinder von ihren eigenen Angehörigen an die Menschenhändler-Vereinigungen verkauft wurden. Um mir ein Bild von den Dörfern machen zu können, aus denen die Mädchen stammten, unternahm ich mehrere kurze Reisen in die damals noch sehr schlecht erreichbare Region (von Taibei aus benötigte man zu jener Zeit noch sechs Zugstunden). Wenn ich damals auch noch nicht die Gelegenheit zu einer tiefergehenden Feldstudie hatte und mich später hauptsächlich auf die Materialien jener Taibeier Menschenrechtsorganisationen stützen musste, die sich des Problems angenommen hatten, so kam mir in Hualian selbst dennoch ein Phänomen zu Ohren, das sich mir einprägte: So erzählte man sich unter Taroko, dass „sich jeder Außenstehende seinen Teil denken könne, wenn eine Taroko-Familie gerade mal wieder ein neues Haus baue und in dieser Familie kurz vorher ‚klammheimlich’ ein Schwein geschlachtet worden sei.“ Das Schlachten von Schweinen hatte bei den Taroko traditionell durchaus unterschiedliche Funktionen. Eine wichtige aber war die des Ablasses, d.h. die Sühnung von Vergehen gegenüber den Ahnenseelen. Bemerkenswert erschien das hier berichtete Verhalten allerdings besonders vor dem Hintergrund, dass in dieser Zeit bereits über 80% der Taroko als christlich missioniert galten.


Straßenszene in einem Taroko-Ort (Aufnahme 1996)


Meine zweite Gelegenheit zu einem längeren Kontakt mit Hualian und den hier lebenden Ureinwohnern hatte ich von 1994 bis 96. Dieses Mal galt mein Interesse der aktivistischen Ureinwohnerbewegung sowie der Frage, wie diese bei den einfacheren Bevölkerungsschichten auf dem Land aufgenommen wurde.7 Während dieser Forschung lebte ich ein Jahr lang in einem Taroko-Dorf in der Nähe von Hualian-Stadt. Da in der Familie, die mich aufnahm, das Jagen zur Tagesordnung gehörte, hatte ich reichlich Gelegenheit, eine der wichtigsten und beliebtesten Taroko-Traditionen aus nächster Nähe mitzuerleben. Dabei gab es eine Beobachtung, die mich zunächst verblüffte, die später aber von Taroko-Intellektuellen durchaus bestätigt wurde: So wie für Männer früher das Jagen – und hierin war die auch für den Jäger sehr gefährliche Kopfjagd durchaus inbegriffen – als Mut- und Geschicklichkeitsbeweis gegolten hatte und der gesellschaftliche Status von Männern am Erfolg bei der Jagd gemessen wurde, so schienen heute nicht zuletzt die Illegalität des Jagens und die hiermit verbundene Gefahr der Bestrafung dazu beizutragen, dass erfolgreiches Jagen Ansehen und Prestige einbrachte. Es war u. a. diese Beobachtung, die mich damals annehmen ließ, dass die Taroko ihre eigene ‚moralische Ökonomie’ in Abgrenzung zur zwar konfuzianische Werte hochhaltenden, die Ureinwohner aber unterdrückenden Han-Gesellschaft ausgebildet hatten. Darüber hinaus gab es noch einen weiteren, ebenfalls mit der Jagd bzw. dem Schlachtvorgang in Zusammenhang stehenden Aspekt, auf den ich hier das Augenmerk richten möchte: So konnte ich mehrere Male beobachten, wie die Jäger nach der Schlachtung blitzschnell und fast verstohlen winzige Stücke von den Extremitäten der Beute abschnitten und verschwinden ließen - zum ‚Füttern der (bösen) Geister (gui)‘, wie man mir auf meine Nachfragen hin dann eher wortkarg mitteilte. Nie gelang es mir, von den Jägern selber mehr über den Verbleib der abgeschnittenen Teile zu erfahren. In geselliger Runde wurde dann – oft waren Verwandte oder Bekannte aus den umliegenden Dörfern eigens herangereist – zunächst das mit Reiswein vermengte Blut getrunken, allerdings nur, wenn es von frisch ausgebluteten Grasfressern stammte. Danach nahm man – unter Zugabe von Salz und ebenfalls roh – Herz, Leber, Nieren und Magenhaut zu sich.8 Vom übrigen Fleisch wurde bei solchen Gelegenheiten höchstens gekostet. Die Abnehmer standen in der Regel bereits fest: Freunde und Verwandte, noch öfter aber Han, bei denen das Wild sehr begehrt war.9 Eine weitere Form der Schlachtung konnte ich anlässlich von Hauseinweihungen oder Hochzeiten beobachten: Hier waren es immer Haustiere – meist Schweine – deren Fleisch nach der Tötung an die anwesenden Gäste verteilt wurde. Während diese kleinen ‚Feste’ damals zwar noch nicht direkt im Zentrum meiner Forschung standen, so gehörten sie doch zu den interessantesten und freudvollsten Ereignissen meines Aufenthaltes bei den Taroko - in einer Umgebung, die stärker als bei allen anderen Ureinwohner-Ethnien Taiwans von Alkoholismus und sozialem Zerfall gekennzeichnet war.10 Dabei handelte es sich allerdings stets um in der Familie oder in kleinen Bekanntengruppen gefeierte Feste. Fremd dagegen schienen den Taroko und den Atayal jene prunkvollen, alljährlich im Kollektiv abgehaltenen Dorffeste und Rituale zu sein, wie man sie bei anderen Ureinwohner-Ethnien in großer Vielfalt beobachten konnte. Einer der Gründe hierfür war, dass die Taroko wie auch die anderen Sedeq-Atayal-Gruppen erst in den zwanziger Jahren des 20. Jhs. von den Japanern aus den Bergen in die Ebene zwangsumgesiedelt worden waren. Um den damaligen Kopfjägern, die den Japanern während der Erschließung der Berggebiets-Ressourcen immer wieder empfindliche Verluste zugefügt hatten, endgültig ihre Kraft und ihren Rebellionsgeist zu nehmen, wurden die Stämme absichtlich getrennt: Einst gemeinsame Arbeiten verrichtende und gemeinsame Rituale praktizierende rituelle Gruppen (kutux gaga) verloren so ihre kohäsive Kraft und Funktion. Hinzu kam, dass die Japaner die Ausübung der traditionellen Feste und Rituale verboten: Zu eng waren letztere in der Vergangenheit mit der Kopfjagd verknüpft gewesen.

Trotz der hier geschilderten Bemühungen der Kolonialregierung kam es im Jahre 1930 zu einer Tragödie: Bei einem Sportfest in Musha – dem heutigen Wushe im geographischen Mittelpunkt der Insel, wo die Umsiedlung der Sedeq-Atayal-Stämme noch nicht stattgefunden hatte - stürmte eine Gruppe von Sedeq-Kriegern die Veranstaltung und tötete über 100 Japaner. Die Köpfe der Getöteten wurden auf der Flucht mitgeführt und bei den anschließend erfolgenden Ritualen verwendet.11


Der traditionelle Ahnenseelenglaube und seine Implikationen

Im Oktober 2002 war ich schließlich wieder bei den Taroko.12 Hierher gezogen hatte mich diesmal allerdings weniger ein diffuses Gefühl von Heimweh oder Nostalgie als vielmehr die Kunde, dass bei den Taroko seit 1999 in unterschiedlichen Orten wieder kollektive und sogar stammesübergreifende Ahnenseelenopfer-Rituale abgehalten wurden – eine Neuigkeit, die mit den oben geschilderten Beobachtungen der Jahre zuvor in direkter Verbindung zu stehen schien. So waren es ja die sogenannten ‚Ahnenseelen’, die utux, mit denen in den von mir beobachteten Ritualen kommuniziert worden war: überirdische Instanzen, die in Wirklichkeit einst nicht nur die eigenen Ahnen, sondern auch die Seelen der getöteten Feinde sowie einige weitere nicht nur wohlwollende Seelen umfassten und die über die Einhaltung strenger Gesetzeskodices – die sogenannten gaya – wachten. Jede rituelle Gruppe (kutux gaga) – meist ein Stamm, der bei den Taroko traditionell kaum mehr als 40-50 Personen umfasste – hatte einst ihre eigenen utux und auch ihre eigenen gaya, die sich allerdings in ihren Grundelementen und –bedingungen stark ähnelten. So waren die Fürsorglichkeit gegenüber den Alten oder der korrekte Umgang mit dem anderen Geschlecht bei allen kutux gaga wichtige gaya, deren Nichteinhaltung zur Bestrafung Einzelner oder auch - im Sinne einer Kollektivschuld - des gesamten Stammes führen konnte. Die wichtigsten gaya allerdings waren die Tätowierung und die Kopfjagd gewesen: Nur jene Personen, die sich in besonderer Weise qualifiziert hatten – die Männer in der Kopfjagd und die Frauen in der Webkunst – erhielten ihre volle Tätowierung und waren dann heirats- und fortpflanzungsfähig.13 Und nur diejenigen, die am Ende ihres Lebens rote Hände vorweisen konnten, bekamen schließlich auch Einlass ins Jenseits - über die Regenbogenbrücke (hakaw utux), an deren Übergang ein strenger Wächter stand, der alle Ungehorsamen in die Tiefe stieß. ... .

Von einer solchen Strenge der einstigen gaya wussten jedenfalls die alten Taroko zu berichten – jene letzten Tätowierten, die seit Beginn der 1990er Jahre im Zuge des ganz Taiwan erfassenden Nativismus wieder entdeckt worden waren und nun wie lebende Fossilien vorgezeigt und auf ihre Vergangenheit hin befragt wurden.14 Die Vergangenheit erinnerten diese Alten – dort wo sie sich überhaupt dazu äußerten - allerdings keineswegs nur euphorisch: Sie erzählten von den Qualen des langwierigen Tätowierungsvorganges, dessen gelegentliches Misslingen als Beweis für frühere gesellschaftliche Verstöße und als Zeichen der Bestrafung durch die Ahnen galt.15 Oder sie berichteten von dem Schrecken, der von den Kopfjägern benachbarter Stämme ausging, ganz zu schweigen von den Ängsten, die man selber bei der Berührung mit der Kopfjagd und den dazugehörigen Ritualen durchmachte.16


Rückbesinnung auf die Taroko-Traditionen in den 1990er Jahren

Vor dem Hintergrund der Schilderungen der Alten wirkte es zunächst grotesk, dass jüngere Taroko-Intellektuelle seit Mitte der 1990er Jahre in geradezu nostalgischer Art und Weise wieder über die Tätowierungspraktiken und die gaya zu reden begannen und das, wie es schien, irreversible Erlöschen dieser Bräuche in aller Öffentlichkeit bedauerten. Besonders die seit Mitte der 1990er Jahre mit der Zusammenstellung der muttersprachlichen Schulbuchmaterialien betrauten Erziehungseliten – Grund- und Mittelschullehrer sowie Schuldirektoren, deren ‚kulturelles Kapitel’ infolge der Zuteilung dieser neuen Aufgabe beträchtlich gestiegen war – übertrafen sich bei der Darstellung dieser Dimension der eigenen Kultur in Vorträgen und Artikeln, aber auch in den eigens für Taroko-Kinder ausgearbeiteten Schulbüchern.17 Von hochstehenden kulturellen Errungenschaften war hier die Rede, deren Übermittlung für die Nachwelt ein überlebenswichtiges Gut darstelle. Ähnlich äußerten sich die politischen Eliten, die seit 1995 dazu übergegangen waren, ihre traditionellen Taroko-Namen zu rehabilitieren. Selbst Teile der kirchlichen Eliten schienen zumindest die sich in den Taroko-Traditionen widerspiegelnden Werte nicht völlig abzulehnen. Immer wieder wurde darauf hingewiesen, mit welcher Disziplin und Verantwortlichkeit sich selber und der Nachwelt gegenüber, bei absoluter Ehrfurcht gegenüber den gaya, gehandelt worden sei: Jene Übertretungen, die heute an der Tagesordnung seien - wie Alkoholismus, Diebstahl, Prostitution, gegenseitige Beleidigungen etc. – habe man früher nicht gekannt, die Aufrechterhaltung der gesellschaftlichen Ordnung sei bei strikter Einhaltung der gaya garantiert gewesen.18

Prozess der Tätowierung. Aufnahme von 1927 aus der Zeit der jap. Kolonialherrschaft

(1895-1945)


Ich habe an anderer Stelle (Rudolph 2002 u. 2003) beschrieben, welche äußeren Bedingungen die Herausbildung der hier zur Sprache gebrachte Bewusstseinshaltung mit motivierten. So legten Han-Intellektuelle in den 90er Jahren immer stärkere Bestrebungen an den Tag, sich von einer als paternalistisch empfundenen, konfuzianische Werte verkörpernden chinesischen Tradition und Kultur kulturell und politisch abzugrenzen und eine eigene ‚taiwanesische Subjektivität’ zu beschwören - eine Art kultureller und intellektueller Eigenständigkeit, zu deren Selbstverständnis es aber auch gehörte, dass sie sich aus der großen Vielzahl der Subjektivitäten der unterschiedlichen Kulturen und Ethnien Taiwans zusammensetzte und diese auch zu Worte kommen lassen mußte, wollte sie in ihren konstitutiven Anstrengungen glaubwürdig erscheinen. Explizit waren Ureinwohner in diesen Jahren aufgefordert, ihre traditionellen moralischen und philosophischen Systeme vorzustellen und über Möglichkeiten einer Revitalisierung bzw. Weiterentwicklung nachzudenken.

Hierüber hinaus ließ sich bei den Taroko während der 1990er Jahre allerdings noch eine weitere Entwicklung beobachten, die ich hier kurz ansprechen möchte. So war bemerkenswert, dass die von den Taroko-Intellektuellen betonten Traditionen nicht etwa mit einer übergreifenden Atayal-Kultur in Beziehung gesetzt, sondern als charakteristische Elemente einer auf der Welt einzigartigen Taroko-Kultur herausgestellt wurden. Man wies darauf hin, dass nicht nur die Sprache der Taroko bis zu 80% von der der Atayal abweiche, auch die Muster der Gesichtstätowierungen seien unterschiedlich. Darüber hinaus würden sich auch viele gaya der Sedeq bzw. Taroko von den gaya der Atayal unterscheiden. Kurzum – man wollte als eigene Ethnie mit eigenen Landrechten und eigenen politischen Vertretern anerkannt werden ... ein Bestreben, dass in einem sich international als multikulturalistisch präsentierenden Taiwan durchaus Aussicht auf Erfolg hatte, war man nur in der Lage, seine kulturelle Partikularität genügend unter Beweis zu stellen.


Frauen- und Männer-Tätowierungen bei den Taroko (Aufnahme 1996)


Das Muster-Ritual

Ganz in diesem Sinne setzten sich die Mitglieder der Taroko-Kultur-Association – ein 1992 ins Leben gerufener Zusammenschluss von Erziehungseliten und politischen Eliten - im Sommer 1997 schließlich zusammen und diskutierten die Möglichkeiten der Revitalisierung eines spezifischen Taroko-Rituals. So wie die Ami der umliegenden Orte jedes Jahr ihre Ernte-Rituale abhielten und hierfür auch handfeste Unterstützung von Regierungsseite erhielten, sollten die Taroko nun ihr eigenes, alljährlich wiederkehrendes Ritual haben, das ihnen Unterstützung von offizieller Seite einbrachte, sie nach außen hin bekannt machte (also etwa auch den Taroko-Tourismus förderte) und nach innen hin solidaritätsstärkend wirkte. Bis 1999 hatte man ein Skript erstellt, und im Mai desselben Jahres wurde auf dem Sportplatz von Wanrong das erste große, kollektive ‚Ahnenseelenopfer-Ritual’ abgehalten - ein sogenanntes ‚Muster-Ritual’, das für alle Taroko verbindlich sein sollte und das in den folgenden zwei Jahren tatsächlich noch an vier weiteren Orten aufgeführt wurde.19 Eingebettet war dieses Muster-Ritual in der Regel in ein ‚Fest zur Tradierung der Kultur’, das stets durch die Ansprachen einiger führender Taroko- und Atayal-Politiker eingeleitet wurde und dessen Abschluss gemeinsame, teils traditionelle, teils moderne Spiele und Tänze bildeten – alles in allem ein stark ritualisierter Ablauf, der übrigens auch repräsentativ für alle später von mir selbst beobachteten Taroko-Feste war.

An den neuen kollektiven Ahnenseelenopfer-Ritualen teilnehmende Taroko-Mädchen

mit aufgeklebten Tätowierungen (Aufnahme 2002)


Das Muster-Ritual selber kann grob in vier Phasen bzw. Szenen unterteilt werden, i.e., (1) die Ritual-Vorbereitung, wozu u.a. die Informierung aller Beteiligten durch die Stammesführer gehörte, (2) das Jagdopfer sowie die Jagd, die während der Performanzen aber selber nicht gezeigt wurden, (3) die Tötung und Verteilung der Beute sowie (4) das Ahnenseelen-Nahrungsopfer.20

Wie schon die Auslassung des Jagd-Vorganges nahe legt, handelte es sich bei diesem Ritual genauer genommen um eine Ritual-Collage: Zur Steigerung der performativen Wirkung waren hier mehrere Riten wie im Zeitraffer miteinander verschmolzen und in einen neuen Kontext gestellt worden – eben das ‚Ahnenseelenopfer-Ritual’, das es früher in dieser Form nie gegeben hatte und für das es in der heutigen Taroko-Sprache auch keinen äquivalenten Begriff gibt. Verlegen um einen muttersprachlichen Ausdruck zur Komplementierung des chinesischen Begriffs ließ man sich schließlich von den Schriften Sayama Yukichis – eines Ethnologen der japanischen Kolonialzeit - inspirieren, dem seine Informanten noch 1914 von kollektiven Ahnenseelenopfer-Ritualen in nicht allzu weit zurückliegender Vergangenheit berichtet hatten – sogenannten ‚mgay bari’, was am ehesten mit ‚Ahnenseelen-Fütterungen’ übersetzbar ist.21 Zwar wurde dieser Begriff später bei der Ankündigung der Rituale gemeinsam mit dem chinesischen Begriff verwendet, prägte sich aber aufgrund seiner Fremdheit bei den wenigsten Taroko ein, so dass heute meist nur der chinesische Begriff verstanden wird.

Taroko-Häuptling mit aufgeklebter Tätowierung bei einem Ahnenseelenopfer-Ritual

(Aufnahme 2002)


Die Abfolge der einzelnen Segmente des Muster-Rituals weist derweil darauf hin, dass mit der Inszenierung auf die einst nach der Sommerernte stattfindenden Rituale angespielt werden sollte. Wie Sayama 1917 beschreibt, wurde - genauso wie nach der Aussaat - unmittelbar nach der Ernte und noch vor der Feier des eigentlichen Ernte- bzw. Beute-Dankrituals zunächst gemeinsames Jagen angeordnet. Diesem lief ein Blutopfer (bouda) vorweg: Getötet wurden – ganz im Sinne eines ‚Tauschhandels’ mit den Ahnenseelen, aber auch als eine Art ‚Ablaß’ zur Herstellung ritueller Reinheit vor der gefährlichen Jagd – Haustiere wie Hühner oder Schweine. Ein Teil des während der Tötung aufgefangenen Blutes wurde dann in der Umgebung versprengt und verstrichen, ein anderer Teil wurde auf die Waffen der Jäger aufgetragen, die hiernach mit metaphysischer Kraft für die Jagd ausgestattet waren.

Ein weiteres Opfer erfolgte dann nach erfolgreicher Jagd und nach der Schlachtung und Teilung der Beute, i.e. das Nahrungsopfer (gnselan): Winzige Teile der Extremitäten der Beute wurden von den Stammes- und den Familienoberhäuptern zusammen mit Hirsekuchen, Hirsewein und anderen Ernteerträgen in große Blätter eingewickelt, danach wurden die Päckchen mit Schnüren versehen und an einen Baum gehängt.

Bei beiden Opferhandlungen wurden vom Ritualleiter, der während des Rituals eine weitere Rolle neben den Stammesführern und Familienoberhäuptern innehatte, Gebetsformeln gemurmelt, mit denen die Ahnenseelen um Schutz und Aufrechterhaltung der Prosperität der Gruppe gebeten wurden.


Taroko-Häuptling bei der Versprengung des Opfer-Blutes (Aufnahme 2002)


Wie der Taroko-Lehrer Gariyi (2002) in seiner Analyse der Rituale deutlich macht, kommt besonders dem zuerst genannten Ritual – dem bouda – in Verbindung mit der Jagd zentrale Bedeutung zu: Hieran werde die wichtige Rolle von Blut bei den Taroko erkennbar. Ohne Blut sei jede Kommunikation mit den Ahnenseelen wirkungslos, die Ahnenseelen wollten Blut sehen. So konnte weder die Initiation der Männer noch die der Frauen zu heirats- [und somit fortpflanzungs]fähigen Menschen einst ohne Blutvergießen erfolgen (Kopfjagd, Hände wund weben und Tätowierung), und auch beim Überschreiten der Regenbogenbrücke ins Reich der Ahnenseelen spielte Blut die Schlüsselrolle. Es hatte sozusagen Katalysatorfunktion für alle wesentlichen Zustandsveränderungen. Auch das bouda und die Jagd, die nur unmittelbar nach der Aussaat und nach der Ernte kollektiv vollzogen wurde, waren Ausdruck dieser Logik.


Ausbleibende Akzeptanz der neuen Rituale

Anhand der vorangegangenen Schilderung wird deutlich geworden sein, was die Urheber des Muster-Rituals dazu bewog, zwei ursprünglich voneinander getrennte Rituale – das Jagdopfer und das Nahrungsopfer – im Rahmen eines übergreifenden Rituals – eines mgay bari - zu präsentieren: Bei beiden handelte es sich um Opferhandlungen, die in den Familien selber tatsächlich noch unabhängig vom Christentum und den ‚kirchlichen gaya’ praktiziert wurden und deshalb bekannt sein mussten.22 Durch die Einbindung zweier noch praktizierter Rituale in das Muster-Ritual hoffte man, dem neuen Ritual einen möglichst authentischen Charakter zu verleihen und so nicht nur Außenstehende – also besonders die taiwanesischen Kultur-Touristen - anzulocken, sondern auch die eigene Bevölkerung mitreißen zu können.


Genau dies war aber nicht der Fall. Zwar erschien bei der ersten Aufführung eine große Menge von Journalisten, Filmern und Kultur-Interessierten, ihre Zahl nahm allerdings bei den folgenden Aufführungen beständig ab, so dass bei den als ‚Ahnenseelenopfer-Ritualen’ deklarierten Veranstaltungen, die ich im Jahr 2002 besuchte, nur noch Taroko selber anwesend waren. Han-Chinesen, die an früheren Veranstaltungen teilgenommen hatten, wiesen derweil auf die Nüchternheit und Plumpheit der Taroko-Veranstaltungen im Vergleich zu den heiteren und farbenfrohen Ami-Ritualen hin, die von wildem Tanz und Gesang geprägt waren und wo Hirsewein und Bier die Stimmung anheizten. Gerade dieses zuletzt genannte Element fehlte – auf Betreiben der Kirchen hin – bei den Taroko-Festen völlig.23

Auch die Resonanz auf Seiten der Taroko selber blieb verhalten. Wie die taiwanesische Ethnologin Qiu Juanfang, die eines der Muster-Rituale im Oktober 2000 im Ort Wenlan mitverfolgte, berichtet, verhielten sich die meisten Dorfbewohner der Veranstaltung gegenüber überaus indifferent. Nicht nur die Bedeutung der Taroko-Bezeichnung des Rituals mgay bari war den meisten unklar, auch die hier inszenierten Handlungen vermochten ihr Interesse kaum zu wecken.24 Bei den von mir im November 2002 besuchten Veranstaltungen war der Großteil der jeweiligen Dorfbevölkerungen zwar anwesend, nutzte das Fest einschließlich der Ritualaufführung aber vornehmlich als willkommene Gelegenheit zum gemeinsamen Grillen.

Bei der Suche nach den Gründen für das offenbar geringe Interesse an den Ahnenseelenopfer-Ritualen fiel zunächst einmal der sehr zurückhaltende und vorsichtige Umgang der großen Masse von Taroko mit Begriffen wie utux und gaya auf – beides Termini, denen in den von den Intellektuellen neu ins Leben gerufenen Ritualen eine zentrale Rolle zukam. Ein wichtiger Grund für diese Vorsicht war zum einen die Haltung der unterschiedlichen Kirchen, die trotz ihrer Rivalität untereinander einen nicht zu unterschätzenden Einfluss in den Taroko-Orten besaßen und aus ihrem Argwohn gegenüber den neuen Ritualen – geäußert wurde der Verdacht der Ahnenverehrung und der Vielgötterei - keinen Hehl machten. Nur einige wenige jüngere Geistliche der Presbyterian Church of Taiwan (PCT) vertraten die Ansicht, dass auch die Taroko-Traditionen von Gott geschaffen worden seien und von daher kein Grund zu ihrer Verachtung bestehe – vielmehr gehe es darum, sie zum Wohle der Menschen durch die christliche Religion hindurch positiv zur Entfaltung zu bringen. Es waren diese Geistlichen, die sogar für eine partielle Revitalisierung der gaya eintraten und während der Ritual-Aufführungen – stark kritisiert von den anderen Geistlichen – die Rolle des Ritualleiters übernahmen oder die Eröffnungsreden zu Beginn der Rituale hielten. Aber sie waren eine kleine Minderheit und repräsentierten nicht die Allgemeinheit. Von Seiten anderer Geistlicher wurde ihnen sogar Unverstand vorgeworfen: Sie hätten offenbar nicht begriffen, dass mit den utux und den gaya, denen nach wie vor schwarze magische Kräfte innewohnten, nicht zu spaßen sei. Man dürfe diese Kräfte nicht herausfordern.25

Mit dieser Kritik hatte man den Nagel in der Tat auf den Kopf getroffen. So hatte ich weiter oben bereits darauf hingewiesen, dass sich Taroko im Allgemeinen nicht gerne zu ihrer traditionellen Religion befragen ließen. Es kam sogar vor, dass die andere Seite bei der Erwähnung des Begriffs ‚gaya’ regelrecht erschrak und sich nicht vorstellen konnte, dass den Forscher solch ‚grauenvolle Dinge’ interessieren könnten.26 Denn ‚gaya’ hatte keineswegs nur die von den Intellektuellen ins Chinesische übersetzte Bedeutung ‚Gesetze der Ahnenseelen’: Weitaus häufiger wurde der Begriff im Sinne von ‚Vergehen’ und sogar ‚Bestrafung durch die Ahnenseelen’ verwendet.27 Die Ethnologin Qiu Juanfang (2002) erklärt die unzureichende Interpretation der Intellektuellen damit, dass sie ähnlich wie oft die Ethnologen einen Spagat zwischen zwei unvereinbaren Kulturen machen müssten. Ganz auf das Ziel fixiert, die eigene Kultur den Han gegenüber in anschaulicher, nachvollziehbarer und akzeptierbarer Weise zu präsentieren, gehe dann bei der Übersetzung vieles verloren oder werde verfälscht.

Da die utux und die gaya also in subtiler Weise immer noch als wirkungsvoll und darüber hinaus auch als furchtbar empfunden wurden (selbst das Aussprechen der Worte war ursprünglich verboten),28 betrachteten es viele schlichtweg als geschmacklos und sogar als gefährlich, ihre Aufmerksamkeit in aller Öffentlichkeit rein zum Vorzeigen heraufzubeschwören. Opferhandlungen wurden wie bereits erwähnt sonst stets nur im Familienzusammenhang oder im Kreis enger Bekannter vollzogen, keineswegs jedoch wurden sie im Kollektiv abgehalten.29 Unter solchen Bedingungen konnte es für viele Taroko nicht nachvollziehbar sein, wenn es bei der Ankündigung der Feste hieß:


„Wenn wir hier heute zusammenkommen und das Ahnenseelenopfer-Ritual abhalten, so geschieht dies um der Entfaltung unser hochwertigen Traditionen, unserer Sitten und unserer Lebenskraft willen. Wir wollen unsere innersten Normen und Gesetze reorganisieren, eben unsere gaya wiederbeleben.“30


Nicht zuletzt das hier zutage tretende mangelnde Einfühlungsvermögen der Veranstalter wird der Grund dafür gewesen sein, dass man die Rituale mir gegenüber fast durchweg schlecht bewertete: ‚Es wirkt alles zu gespielt’, war eine häufige Reaktion; noch häufiger hörte man die Anschuldigung, ‚das ganze Streben der Intellektuellen sei doch nur auf die Einheimsung von Wahlkampfgeldern hin gerichtet‘. Tatsächlich war die Einrichtung von Kulturstiftungen, aber auch das Abhalten von Kulturveranstaltungen höchst lukrativ. Konnten die Regierungsgelder, die den Stiftungen für ihre Aktivitäten zur Verfügung gestellt wurden, zwar auch oft nicht direkt in den Wahlkampf fließen, so stattete die Umverteilung der Gelder den Stiftungsleiter, bei dem es sich in der Regel um ein Mitglied der Erziehungselite oder der politischen Elite handelte, doch mit einer gewissen Macht aus. Er wurde zu einem gesellschaftlichen Mittelpunkt, der dann im Vorfeld von Wahlen von politischen Kandidaten, Wirtschaftsunternehmen etc. angesteuert und mit Geldern versorgt wurde. Aufgrund des allseits geachteten Image des Kulturschützers war er dabei besser gestellt als die KMT-Kader oder Bauern-Genossenschaftsvertreter von früher, die die für die Wahlen benötigten exorbitant hohen Summen oft mit Hilfe schlecht getarnter Erpressung oder über Beziehungen zusammengetragen hatten.


Kopfjagdritual bei den Taroko im Herbst 2002


Ahnenseelenopfer-Rituale im Jahre 2002

Bereits im Jahre 2002 zeigte sich, dass sich das Muster-Ritual offenbar nicht in der einst von den Intellektuellen konzipierten Weise durchsetzen konnte. Die Gemeindeverwaltung hatte kurzerhand beschlossen, die Mittel, die sonst jedes Jahr in ein einziges Taroko-Fest geflossen waren, für die Feste drei unterschiedlicher Dörfer zur Verfügung zu stellen. Die Gestaltung des Inhalts lag dadurch wieder bei den Dörfern selber. Während die von mir im Herbst 2002 beobachteten Feste von ihrer Struktur her keinen Unterschied zu den früheren Festen aufwiesen (weiterhin bestand die Dreiteilung ‚Ansprachen – Ritual – Spiele’), wich der Inhalt der ebenfalls als ‚Ahnenseelenopfer-Rituale’ bezeichneten Performanzen - im Jahr 2002 ein Jagdritual, ein Kopfjagdritual und ein Heiratsritual – doch beträchtlich vom einstigen Muster-Ritual ab. Erstaunlich war, dass ein echtes Blutopfer – das bouda – bei den letzten beiden Ritualen völlig fehlte. Während des Kopfjagdrituals wurde eine blutverschmierte Kopf-Attrappe, nachdem man sie eindrucksvoll in der Luft herumgeschwungen und umtanzt hatte, auf einen Altar gestellt und gefüttert und besungen. Schließlich wurde mit dem Kopf gemeinsam getrunken. Wie Gariyi (2001) in seinen Interpretationen deutlich macht, kamen die so Trinkenden mit bhring – der metaphysischen Kraft des Feindes – in Berührung: Nach ihrem Übergehen in die eigenen Körper galt die Beherrschung der Ordnung im Stamm als gewiss. Als Begründung für das Fehlen des Blutopfers wies die Ritualleiterin – eine ältere Presbyterin, die auch für die Gestaltung des Rituals verantwortlich war – auf die Möglichkeit des Missverständnisses hin, es gehe dabei um echte Ahnenverehrung. Im Fall des Kopfjagdrituals sei indes klar, dass es sich hier nur um das Nachspielen einer genuinen Tradition handele.

Gemeinsames Trinken mit dem Kopf des getöteten Feindes (Aufnahme 2002)


Bei dem im gleichen Jahr in einem weiteren Ort abgehaltenen Heiratsritual schließlich fehlte jegliches Blut. Zwar hatte man ein riesiges Schwein in einem Käfig in die Mitte des Sportplatzes gestellt, wo es in der glühenden Sonne schrecklich litt. Nach dem Ende des Festes wurde es allerdings zur Verblüffung der meisten Umstehenden wieder unversehrt weggetragen, obwohl während des Rituals auf die Notwendigkeit des Blutopfers hingewiesen worden war. Der Messerschmied Emax, der in diesem Falle den Ritualleiter gespielt hatte, bemerkte hinterher trocken, dass das Schwein wohl getötet worden wäre, hätte er die Dinge in der Hand gehabt. In diesem Falle aber habe die katholische Kirche ihr Veto eingelegt. In beiden geschilderten Fällen also hatten sich christliche Geistliche mit ihrer Auffassung durchgesetzt, dass – um Missverständnissen vorzubeugen – kein Zweifel über den Spiel- und Theater-Charakter der Aufführungen gelassen werden durfte.

Allerdings wurden auch im Jahr 2002 durchaus noch kollektive ‚bouda’ mit echten Blutopfern aufgeführt, wenn auch nicht im Rahmen der inzwischen offiziellen, alljährlich wiederkehrenden ‚Ahnenseelenopfer-Rituale’. Gleich zwei dieser Rituale konnte ich in dem Ort Kele am Eingang der Taroko-Schlucht beobachten, beide wurden von der Kele-Kultur-Tradierungs-Association abgehalten. Anlass für das erste Ritual war eine Jeep-Rally, die Anfang November in der Flussmündung bei Kele stattfand. Bei dem genannten Gelände handelte es sich um einstiges Taroko-Gebiet, das allerdings nach Ende der japanischen Kolonialherrschaft zu Staatsbesitz erklärt worden war. Mit etlichen Protestaktionen hatte man versucht, dieses Land zurückzugewinnen, wenn auch bisher ohne Erfolg. Um das Rennen glimpflich und unfallfrei verlaufen zu lassen, wurde von den Taroko ein Huhn getötet, und wurden Teile des Blutes auf die Autos gestrichen. Die zweite Gelegenheit war ein internationaler Marathonlauf, der kurze Zeit später in der Taroko-Schlucht stattfand und zu dessen Anlass eine Ausstellung zur allgemeinen Bekanntmachung der Taroko-Kultur organisiert wurde. Die Eröffnung der Ausstellung einen Tag vor dem Marathon war ebenfalls von einem bouda begleitet, wieder war es ein Huhn, das getötet und dessen Blut auf dem Boden versprengt wurde. Unklar blieb, ob das Ritual den Läufern galt oder ob es die erfolgreiche Durchführung der Ausstellung beschwören sollte.31 Das Fest, in das das Ritual eingebunden war, trug den blumigen Titel ‚Taroko-Regenbogen-Kulturfest’.


Bibliographie


Cao Xiuqin, 1998, Jisi fenshi yu Tailugeren de qinshu guanxi [Rituelles Teilen und die Verwandtschaftsbeziehungen der Taroko], Magisterarbeit am Ethnologischen Seminar der Donghua-Universität, Taiwan 7/1998.

Gao Shunyi [PCT-Prediger], 2001, „Delugu (Truku) ren de shengming liyi“ [Die Übergangsriten der Taroko], in: Tailuge guojia gongyuan yuanzhumin wenhua jiiangzuo, Taiwan 2001:70-76.

Gariyi Jihong, 2001, „Guoshou, jingmian yu slbuxan“ [Kopfjagd, Tätowierung und Kopfjagdgewand], Vortrag auf dem 1. Ureinwohner-Magistranden-Symposium.

Gariyi Jihong, 2002, “Yishi, zaizao yu bianqian: Taya dongsaidekequn liang ge cunluo yishi tanxi” [Revitalisation and Change of Rituals: Analysis of the rituals of two villages of the East-Sedeq-Atayal], Third Symposium of postgraduates of Anthropology in Taiwan 24.5.2002.

Luo Jianguo, 2002, „Shehuike zhong Yuanzhumin wenhua chuancheng de kecheng sheji : Yi Tayazu wenmian wie li“ [Die Gestaltung des Unterrichts zur Tradierung der Ureinwohner-Kultur am Beispiel der Tätowierungen der Atayal], in: Yilan wenxian zazhi No.55, 1/2002.

Qiu Juanfang 2002, “Chuantong de jiangou yu wenhua de zhuanshi: Shixi Hualian Truku ren de zulingji“ [Konstruktion von Tradition und der Wandel kultureller Interpretationen: Versuch einer Analyse der Ahnenseelenopfer-Rituale der Taroko], in: Tayazu zuqun yishi zhi jiangou, rentong yu fenlie xueshu yantaohui [Vortrag auf dem Symposium zur Identitäts-Konstruktion, ethnischen Identifikation und Spaltung bei den Atayal-Ethnien], Taibei 16.-17.11.2002.

Qiu Ruolong, 1999, GaYa – 1930 nian de wushe shijian yu Saidekezu [GaYa: Der Wushe-Zwischenfall von 1930 und die Sedeq]“, Taiwan 1999)

Rudolph, Michael, 1993, Die Prostitution der Frauen der Taiwanesischen Bergminderheiten - Historische, Sozio-kulturelle und Kultur-psychologische Hintergründe, (LIT Verlag) Hamburg/Münster 1993.

Rudolph, Michael, 2003, Taiwans multi-ethnische Gesellschaft und die Bewegung der Ureinwohner - Assimilation oder kulturelle Revitalisierung, (LIT Verlag) Hamburg/Münster 2003.

Sayama Yukichi, 1917, Banzoku chosa hokokusho [Untersuchungsbericht über die Wilden-Völker], Tokyo 1917.


Endnoten

1 Alle drei han-chinesischen Gruppen Taiwans – i.e., Minnan, Hoklo und Festlandchinesen (s.u.) – sind in Hualian zu großen Anteilen vertreten.

2 Bei den heute noch bestehenden Ureinwohner-Ethnien werden heute offiziell elf Ethnien mit jeweils unterschiedlichen Gesellschaftsformen und ursprünglich schriftlosen Sprachen unterschieden. Während die Sprachen zwar alle der austronesischen Sprachfamilie angehören, sind sie untereinander unverständlich. Die beiden größten Ethnien sind die Ami und die Atayal, danach folgen die Paiwan, Bunun, Puyuma, Tsou, Rukai, Saisiat, die Yami auf der Insel Lanyu sowie die Shao vom Sonne-Mond-See. Auf die Forderungen ihrer Nachfahren hin werden seit 2002 auch noch die Pingpu-Ureinwohner, die ihrerseits ursprünglich in 10 Ethnien zerfielen und seit der japanischen Kolonialherrschaft als völlig an die Han assimiliert galten, als weitere Ethnie mit hinzugerechnet. Ansprüche auf Anerkennung als eigene Ethnie mit eigener Sprache und Gebietsansprüchen werden seit einigen Jahren von den Taroko geäußert, die von Ethnologen bis heute allerdings noch als Sub-Ethnie der Atayal klassifiziert werden. In Bezug auf ihre Physiognomie unterscheiden sich die Ureinwohner von den Han-Chinesen allgemein durch dunklere Hautfarbe, relativ große Augen mit Lidfalte und geringere Körpergröße (Rudolph 2003).

3 Alle Menschen in Taiwan werden politisch als Chinesen definiert. Ethnisch hingegen müssen wenigstens zwei große Gruppen unterschieden werden: die Ureinwohner Taiwans, die sich aus einer Vielzahl unterschiedlicher Ethnien zusammensetzen, im Jahre 2001 aber mit ca. 412.000 Personen nur wenig mehr als 1% der Gesamtbevölkerung Taiwans ausmachten, und die ca. 22 Mio. Han auf Taiwan. In Bezug auf ihre kulturelle Identität kann man Taiwans Han weiterhin unterteilen in Hoklo (ca. 75% der taiwanesischen Gesamtbevölkerung), Hakka (ca. 10%) und in Festlandchinesen (ca. 14%), d.h. nach 1945 vom Festland übergesiedelte Han-Chinesen.

4 Was die wissenschaftliche Auseinandersetzung mit Ureinwohner-relevanten Themen anbelangt, so bietet Hualian des Chinesischen kundigen Wissenschaftlern große Vorzüge: Gleich vier Einrichtungen verfügen hier heute über umfangreiche Sammlungen zu Ureinwohnerfragen:

1. die Donghua-Universität, die über ein ethnologisches Seminar und über eine ‚Nationalitäten-Akademie’ verfügt, an der allerdings auch nicht-Ureinwohner bezogene Themen unterrichtet werden und wo neben Ureinwohnern auch Han eingeschrieben sind;

2. das buddhistische Krankenhaus Ciji mit der ihm angeschlossenen medizinischen Hochschule Ciji, an der ein ethnologisches Seminar und ein Zentrum zur Erforschung von Gesundheitsproblemen der Urbevölkerung (Stichwort: Alkoholismus) eingerichtet wurden;

3. die Pädagogische Hochschule von Hualian, die über ein Zentrum zur Erforschung von Ureinwohner-Erziehungs- und Bildungsfragen verfügt;

4. das Theologie-College Yushan, das von der Presbyterian Church of Taiwan (PCT) eigens zur Ausbildung von Ureinwohner-Geistlichen, -Sozialarbeitern und -Lehrern eingerichtet wurde und wo neben theologischer Arbeit auch Forschung zu kulturellen, sozialen und politischen Fragen der Ureinwohnerbevölkerung Taiwans betrieben wird. Zeitweise aktivistische Ausprägungen der Ureinwohner-Bewegung (s. Rudolph 2003) hatten u.a.. hier ihren Ursprung.

5 vgl. Rudolph 1993.

6 Bereits die Japaner hatten bei den Atayal zwei große Gruppen unterschieden: die Atayal proper und die Sedeq. Letztere wiederum zerfallen in Taroko, Dooda und Dekedaya, drei Gruppen, deren Verbreitungsgebiet sich von Nantou im Westen Taiwans bis zur Ostküste bei Hualian erstreckt. Viele Protagonisten der in mehrere Flügel zerfallenden und sich seit Mitte der 1990er Jahren verstärkt herausbildenden Taroko-Bewegung fordern – wie schon der Name vermuten lässt - nicht allein die Unabhängigkeit von den Atayal, sondern auch die von den Sedeq.

7 Zu dieser Forschung vgl. Rudolph 2003. Die teilnehmende Beobachtung bei zwei Ureinwohner-Ethnien – i.e., den Taroko im Kreis Hualian und den Paiwan im Kreis Pingdong im Südwesten der Insel – führte mich zu dem Schluß, dass der Hauptgrund für die geringe Unterstützung der Eliten durch die Landbevölkerung auf die massiven Unterschiede in der Alltagskultur und der aktuellen Lebenserfahrung beider Bevölkerungssegmente zurückzuführen war: Die generalisierenden intellektuellen Konstruktionen der in einer pan-ethnischen ‚Vierte Welt’-Bewegung agierenden Ureinwohner-Intellektuellen waren nicht kompatibel mit der jeweiligen ethnien-spezifischen ‚moralischen Ökonomie’, die die Landbevölkerung im Zuge der Adaption an die umgebenden gesellschaftlichen Umstände ausgebildet hatte.

8 Lehnte man als Außenstehender die hier erwähnten Gaumenfreuden ab, wurde dies von den Gastgebern oft als demütigend und diskriminierend empfunden: Allzu gegenwärtig war dann das Bewusstsein, gerade aufgrund der Ausübung der hier beschriebenen Gewohnheiten nicht nur von den Han, sondern auch von anderen Ureinwohner-Ethnien abgelehnt zu werden.

9 Die Preise für ein Wildschwein lagen 1995 umgerechnet zwischen 150 und 200 Euro, die für eine Bergantilope etwas niedriger. Am preiswertesten waren Fliegende Hunde und Affen.

10 Während Alkoholismus und Alkoholmissbrauch mit einer Rate von 40 bis 55% bei allen Ureinwohner-Ethnien Taiwans ein ähnlich großes Problem darstellen, sind besonders die Atayal und Taroko nach dem völligen Zusammenbruch ihrer ursprünglichen sozialen Kontrollsysteme von einer Vielzahl sozialer Probleme betroffen (Prostitution, hohe Scheidungsraten, hohe Delinquenzraten etc.).

11 Angeführt wurde dieser Zwischenfall von Mona Ludao, einem Häuptling der Dekedaya-Sedeq. Details zu dem Zwischenfall vgl. Rudolph 2003.

12 Als Aufenthaltsort wählte ich dieses Mal Taichang,, einen im Wesentlichen von Ami und Han bewohnten Ort in der Nähe von Hualian-Stadt, der auf halbem Wege der Taroko-Orte Wasserquell (nördlich von Taichang) und Tongmen (südlich von Taichang) liegt.

13 Während die Tätowierung auf der Stirn von Männern und Frauen bereits im Alter der Geschlechtsreife angebracht wurde, musste mit der Tätowierung am Kinn bis zum Eintritt in das heiratsfähige Alter gewartet werden.

14 Diese Angaben stammen nicht alleine aus schriftlichen Quellen, sondern werden auch von der letzten Tätowierten der Atayal und Taroko in ihren jeweiligen Muttersprachen in eben dieser Weise erzählt (vgl. hierzu den Dokumentarfilm von Qiu Ruolong „GaYa – 1930 nian de wushe shijian yu Saidekezu“ [GaYa: Der Wushe-Zwischenfall von 1930 und die Sedeq], Taiwan 1999).

15 Die sich im Dokumentarfilm von Qiu Ruolong (s.o.) widerspiegelnde oft negative Erinnerung der Vergangenheit deckt sich mit meinen eigenen Untersuchungserfahrungen von 1994-96: Meist verwiesen die tätowierten Alten auf ihre christliche Religion und lehnten jede Befragung zu den alten gaya ab.

16 z.B. Imy am 10.12.02, die einen Alten zitiert, der in seiner Jugend mit bhring – jener metaphysischen Kraft, die einen selber zum erfolgreichen Jäger machte – ausgestattet wurde, indem ihm sein Vater die noch blutigen Haare des Opfers reichte. Ein weiteres häufig berichtetes Erlebnis, dessen sich die Alten mit leichtem Gruseln entsannen, war das Füttern der Feindesköpfe zur Integration der Feindesseelen in den eigenen Stamm. Gimi und seine Schwester berichten von ihrem Großvater, der seine Frau mit Verweis auf die gaya und den zu erwartenden Zorn der utux kurzerhand eine Nacht lang am Dachbalken aufhängte, als sie die Aufstellung von Köpfen innerhalb des Hauses aufgrund des von ihnen ausgehenden ‚Gestanks’ monierte.

17 vgl. Luo Jianguo 2002.

18 vgl. Gao Shunyi [PCT-Prediger] 2001.

19 Der Taroko-Ort Wanrong liegt 50 Kilometer südlich von Hualian-Stadt. Tatsächlich wurde von den gleichen Veranstaltern – wenn auch unter einem anderen Stiftungsnamen - zur Probe bereits im Februar 1999 ein Ahnenseelenopfer-Ritual in Kele am Eingang der Taroko-Schlucht abgehalten. Im Gegensatz zu der drei Monate später in Wanrong stattfindenden Veranstaltung war dieses Ritual allerdings auf den Ort Kele begrenzt und wurde von weit weniger Zuschauern besucht.

20 Anmerken möchte ich an dieser Stelle, dass mir die vorliegende Rekonstruktion zurückliegender Ritual-Veranstaltungen letztendlich nur auf der Grundlage jener Materialien möglich war, die mir von Taroko-Intellektuellen während meines Aufenthaltes 2002 zur Verfügung gestellt wurden. Besondere Unterstützung bekam ich von Gadji, einem Taroko-Volksschullehrer, der nicht nur seit einigen Jahren selber bei der Revitalisierung der Rituale partizipierte, sondern sich als Magistrand am Ethnologischen Seminar der Ciji-Universität auch wissenschaftlich mit der Thematik auseinander setzte. Während ich ihm in Vorbereitung auf seine Unterrichtsstunden an der Hochschule chinesische Zusammenfassungen von V. Turner –Texten gab, versorgte er mich im Austausch mit Dokumentationen der früheren Feste und diskutierte diese mit mir (s. hierzu auch Gariyi 2000 und 2001). Da Gadji seinen Geburtsort Tongmen nie für längere Zeit verlassen hatte, war das Niveau seiner Muttersprache noch vergleichsweise gut, auch wenn er selber anmerkte, dass auch er bei der Konversation mit seinen Informanten ‚im Grunde genommen Mandarin direkt in die Taroko-Sprache übersetze’.

21 vgl. Sayama Yukichi 1917. Es gibt wenig Grund daran zu zweifeln, dass vor der Versprengung der kutux gaga im Zuge der Umsiedlungskampagnen bestimmte Rituale im Stammeskollektiv abgehalten wurden.

22 Tatsächlich wurden auch die christlichen Gebote in der Taroko-Sprache mit gaya kyokai - also kirchliche gaya - übersetzt. Ebenso lautete die Bezeichnung für den christlichen Gott ‚utux baraw’, was soviel wie ‚höchster utux’ bedeutete, gegenüber den ‚utux rodan’, die die Ahnenseelen bezeichneten.

23 In den meisten Ureinwohner-Dörfern sind neben der Presbyterian Church und der Roman Catholic Church auch noch weitere Gemeinden wie die Wahre Jesus Gemeinde oder die Adventist Church vertreten.

24 vgl. Qiu Juanfang 2002. Diese Beobachtung stimmt mit meinen eigenen Befragungsergebnissen im Jahr 2002 überein. Emax, der in Wenlan traditionelle Buschmesser herstellt, meint sogar, dass die unbekannte Bezeichnung mgay bari Verwirrung stifte: Als früher alljährlich stattfindendes Fest sei nur ‚mekan hadul’ – ‚das gemeinsame mit den Ahnen essen und feiern’ – bekannt – ein Fest, bei dem u.a. die Köpfe der getöteten Feinde beehrt und umtanzt wurden (vgl. Gariyi 2002).

25 Nanang 23.11.02. Die meisten Taroko wussten von magischem Zauber in der eigenen Familie zu berichten: Immer gab es irgendeine Großmutter, Ur-Großmutter oder Großtante, die bestimmte Kräfte besessen und auch eingesetzt hatte. Wieder andere Geistliche brachten mir gegenüber auch die Sorge zum Ausdruck, dass durch die Aufführungen ein latentes ‚Supermarkt der Weltanschauungen und Religionen’ –Gefühl bestärkt werden könne. Die ohnehin sehr relativistische Haltung, die viele Taroko aufgrund ihrer wechselhaften Geschichte und Einflüsse hätten, könnte sich so vielleicht noch verstärken und die Taroko zu anderen Religionen hintreiben lassen.

26 vgl. Cao Xiuqin 1998.

27 Qiu Juanfang (2002) gibt folgende Beispiele: So gaben Taroko nicht nur an, dass Geschlechtsverkehr vor der Ehe ‚gaya’ sei; auch Krankheit, Unfälle und anderes Unglück wurden in vielen Fällen als durch Tabu-Verletzungen heraufbeschworen betrachtet und als gaya bezeichnet, wie etwa beim Anblick eines nach einem Unfall auf Krücken daher kommenden Mannes gesagt werden kann „Das ist sein gaya“.

28 Qiu Juanfang 2002.

29 Was die Kritik an der kollektiven Abhaltung der Rituale anbelangt vgl. Imy in Gariyi 2002. Wie bereits gesagt wurde, hatte ein Stamm in der Vergangenheit in der Regel aus nur einer rituellen Gruppe bestanden. Diese Situation veränderte sich schlagartig durch die Zwangsumsiedlung der Taroko-Stämme: Danach lebten bis zu 20 unterschiedliche rituelle Gruppen in einem Dorf zusammen.

30 Hier handelt es sich um die Ankündigung des im Oktober 2000 in Wenlan durchgeführten Muster-Rituals (vgl. Qiu Juanfang 2002).

31 Im Rahmen der Protestbewegung gegen den Taroko-Nationalpark hatten Mitglieder der Ureinwohner-Bewegung bereits im Jahre 1998 schon einmal ein bouda auf konfisziertem Nationalparkland abgehalten. Auch in diesem Falle war der Ritualleiter übrigens ein Pastor der PCT gewesen.