Michael Rudolph
Taiwans Ureinwohner und ihre Schwierigkeiten bei der
psycho-kulturellen Adaption in der Han-Gesellschaft am Beispiel des
Prostitutionsproblems (Vortrag
beim 'Frauentag an der Universität Heidelberg' in Heidelberg am 13.6.1997) EinführungAls Sie den Titel meines heutigen Vortrags lasen, werden Sie sich
gefragt haben, wer denn eigentlich Taiwans Ureinwohner sind. Nach den jüngsten
Einschüchterungsversuchen der Volksrepublik China vor Taiwans Küste 1996 im
Vorfeld der ersten freien Präsidentschaftswahlen auf der Insel ist vielleicht
bekannt, daß Taiwan heute genauso wie China zum größten Teil von Han-Chinesen
besiedelt ist, also Menschen, die sich von ihrer Abstammung her als Chinesen
betrachten. Während die Vorfahren der meisten von ihnen bereits 2-300 Jahre vor
der japanischen Kolonialherrschaft (1895-1945) vom Festland herübergekommen
waren, gibt es in Taiwan noch eine weitere Gruppe von Han-Chinesen, nämlich die
sogenannten Festländer. Sie hatten Taiwan zusammen mit der chinesischen
Nationalregierung erreicht, die 1949 nach der kommunistischen Machtergreifung
endgültig vom Festland vertrieben worden war und nun Taiwan zu ihrem
Regierungssitz machte. Von hier aus tat sie noch bis Anfang der 1990er Jahre
die feste Absicht kund, das von 'kommunistischen Rebellen' besetzte China zu
gegebener Zeit zurück zu erobern. Aufgrund einer Verschiebung des
Mächteverhältnisses in der Regierung zugunsten der bereits vor der
Nationalregierung nach Taiwan gelangten Han, die lange Zeit ohne China
ausgekommen waren und dies zur Not auch in Zukunft zu können meinen, hat sich
die Euphorie bei den Wiedervereinigungs-Bekundungen in den letzten Jahren stark
abgeschwächt. Im folgenden werde ich zunächst (1) einige Worte zu den
malayo-polynesischen Ureinwohnern Taiwans sagen und ihre Situation im heutigen
Taiwan beschreiben. Im Anschluß daran werde ich kurz auf die (2) Perspektive
eingehen, aus der sich den Mitgliedern taiwanesischer Frauen- und
Menschenrechtsgruppen das Problem der Ureinwohnerprostitution darstellt. Bei
meiner (3) eigenen Analyse des Problems will ich dann einerseits
darlegen, welche (3a) soziokulturellen Faktoren zu einer mehr- oder
weniger starken Verwicklung unterschiedlicher Ethnien in die Prostitution
geführt haben. Die andere Seite der Medaille (3b) sind die Motivationen
han-chinesischer Männer beim Aufsuchen von Ureinwohnerprostituierten. Die
Analyse der Freier-Motivation gewährt uns in diesem Fall Einblick in die enge
Beziehung von Diskriminierung und Exotismus. In einem (6) Schlußteil
werde ich dann schließlich noch auf die Maßnahmen der ROC-Regierung bei der
Bekämpfung des Problems der Ureinwohner-Minderjährigenprostitution eingehen. Im
Anhang des Vortragsmanuskripts lässt
sich außerdem noch die deutschsprachige Zusammenfassung einer neueren Studie
der taiwanesischen Ethnologin Wu Tiantai zur
Ureinwohner-Minderjährigenprostitution einsehen. 1. Die malayo-polynesischen Ureinwohner Taiwans und ihre Situation im heutigen TaiwanObwohl die taiwanesischen Ureinwohner heute nicht einmal mehr ganz
2% der ca. 21 Mio. Menschen umfassenden Inselbevölkerung ausmachen, handelt es sich
bei ihnen doch um eine Vielzahl unterschiedlicher Ethnien, die sich alle durch
eigene Gesellschaftssysteme - die einen matrilinear, die anderen patrilinear -,
aber auch durch eigene Sprachen voneinander unterscheiden. Gemeinsam ist diesen
Sprachen allerdings, daß sie insgesamt der austronesischen Sprachfamilie
angehören - im Gegensatz zu den Sprachen bzw. Dialekten, die von den
chinesischen Einwanderen mitgebracht wurden und die alle zur sino-tibetischen
Sprachfamilie gehören: darunter der Hoklo-Dialekt, der die Muttersprache von
rd. 75% der Inselbevölkerung darstellt, der Hakka-Dialekt, der noch von ca. 9%
gesprochen wird, und das Mandarin-Chinesisich, das von der Nationalregierung
1945 aus China importiert wurde und das Japanische als Amtssprache ersetzte.
Sprecher der austronesischen Sprachen sind außer in Taiwan über die ganze
Inselwelt des Südpazifik und des Indischen Ozeans verbreitet, von Madagaskar im
Westen und den Osterinseln im Osten. Auch auf Neuguinea, Neuseeland und Hawai
leben heute noch Teile dieser Völker. Da außer bei den matrilinearen Ami die Kopfjagd noch bis zu Anfang
dieses Jahrhunderts ein integraler Bestandteil der Kultur der auf Taiwan
lebenden malayo-polynesischen Ethnien war, kann man sich vorstellen, daß
Taiwans Ureinwohner weder bei den Han noch bei den Japanern besonders beliebt
waren. Die Kopfjagd diente nicht nur als Mutbeweis, sondern auch der
Beschwichtigung erzürnter Ahnen, der Steigerung von Ernteerträgen etc.: Vom
ethnologisch-funktionalistischen Standpunkt aus betrachtet, mag es sich hier um
eine Art 'offensiven Arterhalts' gehandelt haben. Aus der Perspektive ihrer
Nachbarn freilich stellte sich ein solches Verhalten einfach als roh und wild
dar. Dementsprechend bezeichnete man sie dann auch: In der Umgangssprache werden
sie auch heute noch oft 'huanna' =
'Wilde' genannt. Von den Han unterscheiden sich die Ureinwohner, die noch zu
ca. 2/3 ähnlich wie die Indianer Nordamerikas in Reservaten leben, im
allgemeinen durch dunklere Hautfarbe, relativ große Augen mit Lidfalte und
geringere Körpergröße, auch wenn die Physiognomien der einzelnen Ethnien
durchaus stark voneinander abweichen. Ganz dem Beispiel anderer nationaler Regierungen folgend, war auch
die chinesische Nationalregierung nach ihrer Ankunft auf Taiwan 1945 um eine
schnelle Homogenisierung der auf der Insel angetroffenen kulturellen und
sprachlichen Vielfalt bestrebt. Ethnische Spannungen meinte man sich schon
allein aufgrund des komplizierten Verhältnisses zum Festland nicht leisten zu
können, außerdem erschien der Anspruch einer Rückerlangung ganz Chinas nur dann
legitimierbar, wenn man sich selber und die 'Republik China' als durch und
durch chinesisch definieren und auch so nach außen hin präsentieren konnte.
Vierzig Jahre lang wurde deshalb, oft zum Unmut der schon zuvor auf Taiwan
ansässigen chinesischen und indigenen Bevölkerungsgruppen, jedes Lokalkolorit
unterdrückt und eine Politik verfolgt, die auf eine völlige kulturelle,
sprachliche und politische Assimilierung aller auf Taiwan lebenden Menschen an
die importierte, nordchinesische Standardkultur abzielte. So etwa war man von
der Regierung her nicht bereit, den Minoritätenstatus der Ureinwohner
anzuerkennen: man betrachtete sie gemeinhin als Chinesen, die sich auf einem
niedrigeren Entwicklungsstand befanden. Das Ziel der kulturellen Homogenisierung wäre mit Sicherheit
erreicht worden, wäre es nicht infolge der Ko-option von immer mehr Taiwanesen
in die einst von Festländern dominierte Regierung zu der bereits angesprochenen
Verschiebung des Mächteverhältnisses gekommen. Diese allmähliche, nicht zuletzt
biologisch bedingte Veränderung von innen heraus war einer der wesentlichen
Gründe dafür, daß die chinesische Nationalregierung ihre autoritäre Herrschaft
bis Mitte der 80er Jahre allmählich lockerte, 1986 die Gründung einer
politischen Opposition duldete und 1987 schließlich sogar das Kriegsrecht in
Taiwan aufhob. 2. Das Problem der Ureinwohnerprostitution aus der Sicht taiwanesischer Frauen- und Menschenrechtsgruppen: Die Bedeutung historischer, kultureller und struktureller Faktoren Hier boten sich nun günstige Ausgangsbedingungen für die
Entwicklung einer engagierten taiwanesischen Bürger- und
Menschenrechtsbewegung. Allerorts organisierten sich Umweltgruppen,
Frauenrechtsgruppen und kirchliche Gruppen, deren Mitglieder bei oft viel
patriotischem Eifer für 'Taiwan' gegen die Behörden Front machten und gegen
Mißstände in der Umwelt-, der Frauen-, der Arbeiter-, aber auch der
Minoritätenpolitik protestierten. Der dabei immer wiederkehrende Vorwurf an die
Regierung lautete, daß diese durch Korruption, Vetternwirtschaft und
Amtspatronage und durch gemeinsame Sache mit Finanzgruppen, Konzernen und
Mafia-Triaden die Rechte und Interessen der eigenen Bürger mit Füßen trat und
dem Land auch nach außen hin Gesichtsverlust zufügte. Ganz wie andere
autoritäre Regime war auch die Nationalregierung zur Konsolidierung und
Aufrechterhaltung ihrer Herrschaft über viele Jahrzehnte hinweg tatsächlich auf
zahlreiche finanzkräftige 'Verbündete' angewiesen gewesen, die man durch
Austeilung von Sondergenehmigungen und Duldungen aller Art an sich
heranzuziehen wußte. Nicht zuletzt aufgrund eines einzigartigen, nur noch in
Taiwan angewandten Wahlsystems benötigen selbst einzelne Politiker besonders im
Vorfeld von Wahlen immer sehr viel Geld - so mancher Parlamentarier hielt sich
zur Finanzierung seiner Wahlen seinen privaten Konzern oder sein privates
Bordell. Die virulente Ausbreitung des organisierten Verbrechens in Taiwan hat
hier ihre Ursprünge, und einer der neuralgischsten Punkte in diesem
Zusammenhang ist auch heute noch das Problem der Prostitution von
Minderjährigen und von jungen Ureinwohnerfrauen. Anfang der 1990er Jahre sorgte
ein international verbreiteter englischsprachiger Bericht der Organisation
ECPAT (End Child Prostitution in Asian Tourism) für Aufregung, weil hier von
mindestens 100.000 minderjährigen Prostituierten in Taiwan die Rede war. Die
Organisation bezog sich dabei auf Angaben taiwanesischer NGOs. Bei einer 1991
vom Innenministerium unterstützten Untersuchung konnte eine etwas niedrigere
Zahl ermittelt werden. Tabelle 1 Gesamtzahl der Prostituierten
in Taiwan 5/1991 und 12/1991 Jahr Prost.
insges. Unter
18-jährige Verkaufte 5/1991 178085 50075 9396 12/1991 228568 61393 10832 Im Januar 1987 - noch vor der Aufhebung des Kriegsrechts - hatten
sich erstmals über 30 Frauenrechts-, Ureinwohner- und kirchliche Gruppen
zusammengeschlossen, um im Taibeier Stadtviertel Huaxijie eine Demonstration gegen Minderjährigenprostitution zu
veranstalten. Berüchtigt ist Huaxijie
einerseits aufgrund seines überwältigenden Angebots an lebensstärkenden und
potenzfördenden Mitteln: Zu den Lieblingsartikeln gehört neben
Rhinozeros-Hörnern und Tiger-Krallen die mit Reiswein aufbereitete Galle aller
Arten von Schlangen, welche bei lebendigem Leibe vor den Augen der Kunden
aufgeschnitten und ausgenommen werden. Zu trauriger Berühmtheit aber gelangte
Huaxijie noch aufgrund einer anderen Rarität: dieser Bezirk beherbergt nämlich
gleichzeitig - sozusagen in seinen hinteren Gemächern - eines der beiden
legalen Bordellviertel Taibeis: neben 300 registrierten Prostituierten lebt
hier eine dreimal so hohe Zahl von illegalen Postituierten, unter ihnen viele
Ureinwohner und minderjährige Prostituierte, die rechtlich nicht geschützt und
von daher leicht ausbeutbar sind. So ermittelte die von der Presbyterian Church
eingesetzte Hilfsorganisation für minderjährige Ureinwohner-Prostituierte Rainbow Project bereits bei einer 1985
in Huaxijie durchgeführten
Untersuchung, daß mindestens 40% der hier arbeitenden Frauen Ureinwohner waren.
Hiervon wiederum machten die Atayal mit 60% den größten Anteil aus. Auffallend
war, daß die Ami - die Ureinwohner-Ethnie mit dem größten Bevölkerungsanteil
(über 1/3) - mit nur 10% zu einem sehr geringen Anteil vertreten waren. Tabelle 2 Alter und ethnische
Zusammensetzung der Ureinwohner
Prostituierten 1985 Alter 15-16
17-18 19-20 21 Insgesamt Prozent Ethnie Atayal 5 6 1 0 18 60 Paiwan 0 0 1 6 7 23 Bunun 1 0 1 0 2 7 Ami 0 2 1 0 3
10 Insgesamt 8 11 5 6 30 100 Weitere Untersuchungen, die mir in den nachfolgenden Jahren zur
ethnischen Zusammensetzung und zum Alter der in legalen und illegalen
Bordellvierteln arbeitenden Prostituierten zu Gesicht kamen (meine Daten
reichen bis 1994), erbrachten dann immer wieder das gleiche Ergebnis: Bei der
Gesamtzahl der Prostituierten in Taiwan (12/1991 ca. 220 Ts.) und auch bei der
Zahl der minderjährigen Prostituierten (ca. 60-80 Ts.) waren Ureinwohner stets
mit ca. 25-40% vertreten, und die überwiegende Mehrzahl von ihnen waren
Mitglieder der Atayal. Die Ami hingegen waren trotz ihrer hohen Populationsrate
so gut wie überhaupt nicht in die Prostitution verwickelt, obwohl sie es waren,
die als Mitglieder einer Ethnie ohne Reservatsgebiete bereits zu großen Teilen
in den Städten lebten. Tabelle 3 Ethnische Zusammensetzung der
Prostituierten 12/1991 Ethnie Personenzahl Prozent Hoklo 70 64,2 Hakka 4 3,7 Festländer 8 7,3 Ureinwohner 25 (22 Atayal, 1 Paiwan, 2 Ami) 22,9 Unklar 2 1,8 Insgesamt 109
100 Die Mitglieder der Frauengruppen, die mir 1988 als erste in die
Problematik der Ureinwohner- und Minderjährigen-Prostitutuion Einblick
verschafften, führten in der Regel eine Kombination von historischen,
kulturellen als auch strukturellen Faktoren als Erkärung für das Phänomen an: Historisch
betrachtet, hatte es in Taiwan aufgrund der stets von Männern dominierten
Siedlerströme aus China schon lange ein chronisches Ungleichgewicht im
Geschlechterverhältnis gegeben. Besonders der letzte Strom vom Chinesen vom
Festland - der Exodus der Nationalregierung gegen Ende der 40er Jahre - trug zu
einer erheblichen Verstärkung dieses Ungleichgewichts bei. So kam es nicht nur
massenweise zu Heiraten zwischen Festländern und Ureinwohnerfrauen, sondern
auch zur wachsenden Einbeziehung letzterer in das Prostitutionsgewerbe. Weitere
historische Gründe für ein Ansteigen der Nachfrage nach Prostituierten waren
dann die 'Rest and Creation Camps' der Amerikaner in Taibei zur Zeit des
Vietnamkrieges sowie der japanische Prostitutions-Tourismus, der zu Beginn der
70er Jahre in Taiwan einsetzte, . Hauptsächlich kulturelle
Faktoren werden als Erklärung dafür angeführt, daß eine prosperierende
taiwanesische Mittelschicht Anfang der 1980er Jahre schließlich begann, in
großem Stile selber von dem so in Taiwan entstandenen Markt zu profitieren
(nach den Studien der Frauengruppen hatten mehr als 50% der Taibeier Männer
Kontakt nit Prostituierten). Einerseits gibt es in Taiwan genauso wie in Japan
den sehr populären Brauch, geschäftliche Beziehungen durch gemeinsame Bordell-,
Club- oder Kalaoke-Besuche zu festigen und auszubauen, wo dann sexuelle
Dienstleistungen entgegen genommen werden. Dies geht einher mit dem Umstand,
daß dem Mann in Taiwan (wie in vielen anderen patriarchalen Gesellschaften
auch) das Recht auf vor - und außereheliche Sexualität durchaus zugestanden
wird: Der Bordellbesuch ist - soweit man ihn sich leisten kann - mit keinerlei
gesellschaftlicher Ächtung verbunden. Anders als in der westlichen Kultur,
bietet die traditionelle chinesische Sexualauffassung durch Verbindung eines
sexualmedizinischen und eines metaphysischen Aspekts allerdings einen
hervorragenden Rechtfertigungsgrund für männliches promiskuitives Verhalten: So
besteht einerseits die Vorstellung, daß die Samenmenge begrenzt und nicht
regenerierbar sei. Zum anderen werden alle vaginalen Ausscheidungen außer dem
Menstruationsblut als weibliche yin-Essenz
wahrgenommen. Durch die häufige Aufnahme von yin-Essenz zur Stärkung der eigenen männlichen yang-Essenz ist der Mann nicht nur in der Lage, die Qualität
seines Samens für Zeugungszwecke zu verbessern, auch kann er seine Gesundheit
und Langlebigkeit auf diese Weise positiv beeinflussen. So wird angenommen, daß
die yang-Essenz - beim Sexualakt
durch den Kontakt mit dem weiblichen yin
gestärkt - durch die Wirbelsäule nach oben gepreßt die Regeneration und Stärkung
von Körper und Gehirn insgesamt bewirke. Der mitunter nicht vermeidbare
'Verlust' eigener yang-Essenz kann
durch die reichliche Aufnahme von yin-Esssenz
ausgeglichen werden (dies war übrigens eine der Funktionen von Konkubinen). Die
yin-Essenz von Minderjährigen, aber
auch die von sexuell sehr aktiven Prostituierten, gilt als besonders stark. Strukturelle
Faktoren werden als Erklärung dafür genannt, daß nun gerade die jungen
Ureinwohner-Frauen in so hohem Maße in das Prostitutionsgewerbe hineingezogen
werden. Einerseits waren in einem wirtschaftlich prosperierenden Taiwan immer
weniger Han-Frauen ökonomisch gezwungen oder dazu bereit, sich zu
prostituieren. Auf der anderen Seite zwang der voranschreitende Verlust des
ohnehin zu knapp bemessenen Reservatslandes an Han-Unternehmer oder an
Regierungsprojekte immer mehr Ureinwohner zur Flucht in die Städte, wo sie sich
- ungelernt und als 'Wilde' diskriminiert - mit niedrigster körperlicher Arbeit
zufrieden geben mußten. Die sich so ergebende ökonomische Abhängigkeit trug
nicht unwesentlich dazu bei, daß die Ureinwohner zu einem willkommenen
`Marktobjekt' und zur wehrlosen Zielscheibe der Ausbeutung - auch der sexuellen
- durch die Han wurden. Als schwächstes, wehrlosestes Glied in der Gesellschaft
- i.e., Minoritäten-Individuum, Frau und Kind alles in einer Person - waren die
minderjährigen Ureinwohner-Frauen natürlich in besonderem Maße betroffen: Sie
brauchten den weiten Weg in die Metropolen vielfach gar nicht selber
anzutreten, sondern wurden ihren oft aufgrund von Alkoholismus wirtschaftlich
ruinierten Eltern bereits in den Dörfern von Menschenhändlern abgekauft. Bei
meinem Aufenthalt im Siedlungsgebiet der Taroko-Atayal im Osten der Insel 1995
konnte ich mich selbst davon überzeugen, daß der ökonomische Faktor leider ein
beträchtlicher ist. Die Menschenhändler sind heute allerdings keineswegs mehr
nur noch Han-Chinesen, sondern häufig Atayal selber, die mit lokalen
Atayal-Politikern 'unter einer Decke stecken'. Und die Gründe, die zur
Rechtfertigung der hier eingegangenen, unheilvollen Symbiose hervorgebracht
werden, sind bestechend: so wird gefragt, welche anderen Möglichkeiten die
Atayal denn da noch hätten, um sich in dieser von Han, Konzernen und korrupter
Wahlpolitik dominierten Welt Gehör zu verschaffen, wenn nicht durch den
Rückgriff auf die eigenen Ressourcen? 3. Die Bedeutung soziokultureller Faktoren für die Analyse des Problems der UreinwohnerprostitutionWährend also die ökonomische Zwangslage unbestreitbar die
Hauptursache für die Prostitution von Ureinwohner-Frauen und -Mädchen war,
mußte meines Erachtens aber auch gefragt werden, warum von allen zehn großen
Ureinwohner-Ethnien Taiwans denn gerade die Atayal so massiv von dem Problem
betroffen waren. Spielten hier u.U. auch soziokulturelle Faktoren eine Rolle?
Wie sich herausstellte, konnten in dieser Frage einige neuere Studien
taiwanesischer Ethnologen zu den Folgen von Adaptionsproblemen bei
unterschiedlichen Ethnien Aufschluß verschaffen. Weiterhin leuchtete mir nicht ohne weiteres ein, warum sich
han-chinesische Freier ausgerechnet mit Frauen jener Bevölkerungsgruppen
abgaben, deren Mitglieder in der taiwanesischen Gesellschaft als 'wild',
'unzivilisiert', 'faul' und 'dumm' abgelehnt und diskriminiert wurden. Ich möchte die erste Frage, i.e., die Frage nach den
'soziokulturellen Gründen einer mehr oder weniger starken Verwicklung in die
Prostitution', im folgenden nur kurz diskutieren. Detaillierter werde ich dann
im Anschluß auf die zweite der beiden genannten Fragestellungen eingehen, i.e.,
die nach der 'Freier-Motivation', da sie für uns u.U. von größerer Relevanz
ist. Hier nun jedoch zunächst ein kurzer Exkurs zu den möglichen
sozio-kulturellen Gründen. 3a. Implikationen
unterschiedlicher sozio-kultureller Systeme bei den Ureinwohnerethnien Tatsächlich zeigte sich bei einer Gegenüberstellung der
sozio-kulturellen Systeme der beiden größten Ureinwohner-Ethnien - i.e., Ami
und Atayal - daß besonders solche Faktoren wie die kulturelle Kompatibilität
mit der Han-Gesellschaft und der jeweilige Akkulturationsgrad entscheidende
Auswirkungen auf das Sozialverhalten der Mitglieder dieser Ethnien in der
modernen Gesellschaft haben und auch die mehr oder weniger starke Ausprägung
von Prostitutions-Verhalten erklären können. So bestand bei den Ami eine strikte Hierarchie von 18 Altersrängen:
Jeder einzelne hatte innerhalb seines Altersranges eine festgesetzte Aufgabe,
beim Überwechseln in den jeweils folgenden Altersrang übernahm er eine neue
Aufgabe, bis zum Erreichen des 18. Altersranges mit ca. 60 Jahren, wo er oder
ein anderes Mitglied seines Jahrganges die Aufgabe des Häuptlings übernahm.
Diese Organisationsform war äußerst gegenständlich und konkret und außerdem
aufgrund ihres hierarchischen Charakters in manchen Bereichen mit dem modernen
Han-Verwaltungssystem vereinbar. So war es möglich, daß einstige Häuptlinge die
Rolle von Dorf-Bürgermeistern übernahmen und auch umgekehrt. Unter diesen
Umständen konnte ein allzu harter Anprall der modernen Zivilisation vermieden
werden. Die Altersränge-Hierarchie desintegrierte so nur sehr langsam und
besteht teilweise sogar heute noch. In vielen Fällen wurde das System sogar in
die Gettos der Ami in den Städten importiert. Völlig anders verhielt es sich da bei den Atayal, deren wichtigste
soziale Einheiten verwandtschaftsübergreifende rituelle Gruppen (gaga) waren, die wiederum durch den
kollektiven Glauben an bestimmte Ahnengeister zusammengehalten wurde:
diejenigen, die sich nicht nach den Regeln der Ahnengeister verhielten oder die
vorgeschriebenen Tabus verletzten, brachten den gesamten Stamm in Gefahr und
hatten mit entsprechenden Sanktionen zu rechnen - Grund genug für den
einzelnen, sich den Regeln entsprechend zu verhalten. Zu einer ernsthaften
Krise dieser durch transzendente Vorstellungen zusammengehaltenen
Gesellschaftsorganisation kam es allerdings bereits nach dem Verbot der
Kopfjagd - nur durch sie hatte man sich nämlich gegenüber den Ahnen und
gegenüber anderen Personen im Stamm qualifizieren können. Einen weiteren
Anprall stellte der Hereinbruch der christlichen Religion dar (über 80% der
Ureinwohner sind heute Christen, gegenüber 3% bei den Han). Ihren völligen
Zerfall erlebten die gaga schließlich
bei der Abwanderung von immer mehr ihrer Mitglieder in die Städte. Aber selbst
wenn Teile der traditionellen Gesellschaftsorganisation überlebt hätten, so
wären sie dennoch kaum in das moderne Gesellschafts- und Verwaltungssystem der
Han integrierbar gewesen, da die Atayal
ja nur transzendente Kontrollinstanzen kannten. So konnte bei den Ami - also derjenigen der beiden eben erwähnten
Ethnien, deren Gesellschaftssystem sich aufgrund seiner relativen
Kompatibilität mit der Han-Gesellschaft in seinen wesentlichen Strukturen
erhalten konnte - eine stärkere Verwicklung in die Prostitution ausbleiben, vor
allem aufgrund der intensiven gesellschaftlichen Einbindung aller Mitglieder
und der dadurch bedingten Aufrechterhaltung der inner-sozietären sozialen
Kontrolle. Bei den Atayal hingegen führte die Vereinzelung und die mangelnde
Eingebundenheit des Individuums nach dem Zusammenbruch der wichtigsten sozialen
Institutionen verstärkt hin zu einem Verhalten, welches von den in der
Han-Gesellschaft als auch den in der traditionellen Atayal-Gesellschaft
üblichen Normen abwich. Neben Alkoholismus und erhöhter Kriminalität gehörte
hierzu auch die Prostitution. Gleichzeitig zeigte sich jedoch, daß diese Entwicklung durch
bestimmte in der Han-Gesellschaft angetroffene Bedingungen besonders gefördert
wurde. So trug nicht nur das Ausbleiben der Implementierung einer sachgemäßen
Minderheitenpolitik der KMT-Regierung (i.e, die Intoleranz gegenüber den
sozio-kulturellen Traditionen der Ureinwohner und das Ausbleiben der
gesetzlichen Festlegung des Minderheitenstatus) erheblich dazu bei, daß die
psycho-soziale Adaption der Mitglieder vieler Ethnien mangelhaft verlief -
negative Auswirkungen hatte auch die in der Hauptgesellschaft erfahrene
Diskriminierung, der man bei voranschreitender Beschneidung des eigenen
Lebensraums immer stärker ausgesetzt war. So zeigt sich im Falle von Taiwans
Ureinwohnern (besonders im Falle der Atayal) sehr deutlich, daß Prostitution
auch als eine mögliche Reaktion auf Diskriminierung und Marginalisierung
verstanden werden muß: Während bei vielen Atayal die ständigen Demütigungen und
Mißerfolge zur Aufgabe jeglichen Bewußtseins von Selbstachtung und Selbstwürde
führten und dies den Weg in die Prostitution ebnete, mag bei anderen auch
gerade der Wille zum Erbringen von Leistung in einer gesellschaftlichen
Umgebung, in denen ihnen der soziale Aufstieg auf normalem Wege verwehrt war,
ausschlaggebend für die Verwicklung in die Prostitution gewesen sein. Daß die
Ami von dieser Entwicklung kaum betroffen wurden, läßt sich darauf
zurückführen, daß diese Ethnie aufgrund des früher einsetzenden Kontaktes mit
den Han als auch aufgrund ihrer größeren Anpassungsfähigkeit an das
sozio-kulturelle System der Han-Gesellschaft einem geringeren Maß an
Konfrontation und deswegen auch einem geringeren Maß an Diskriminierung
ausgesetzt waren. So legen die Männer der ursprünglich matrilinearen Ami auch
heute noch ein völlig anderes Verhalten nach außen hin an den Tag als
Atayal-Männer: Während bei letzteren
individueller Mutbeweis und individuelles Durchsetzungsvermögen weiterhin
viel zählen und nach außen gerichtete Aggression durchaus üblich ist, treten
Ami-Männer in der Gesellschaft eher schüchtern und zurückhaltend auf und sind
bereit, Niederlagen einzustecken. Als ich im April 1994 erstmals die Gelegenheit hatte, einige der
Ergebnisse meiner Magisterarbeit beim 'Kulturkongreß taiwanesischer
Ureinwohner' darzulegen und zu diskutieren, mußte ich feststellen, daß
Erklärungsansätze wie der soeben geschilderte in Taiwan z.Zt. nicht sehr
favorisiert werden: Den Mitgliedern der Frauengruppen drängte sich sehr schnell
der Verdacht auf, daß ich hier um eine neue Erklärung für eine
'Selbstverschuldung' der Minderjährigenprostitution bemüht war. Und die Atayal
waren wenig erbaut darüber, bei der Analyse so schlecht abgeschnitten zu haben.
So kostete es mich einige Mühe, die mir selber eigentlich viel wichtiger
erscheinende Schlußfolgerung zu vermitteln, i.e., daß eine Regierung eines
multi-ethnischen Landes wie Taiwan nicht nur um die Anerkennung ihrer
ethnischen Minderheiten bemüht sein sollte, sondern auch eine ethnien-spezifische
Minoritätenpolitik verfolgen sollte, um auf diese Weise die mitunter
verschiedenartigen Adaptionsprobleme unterschiedlicher Ethnien auffangen zu
können. In Taiwan fehlte bei Hochhalten des Grundsatzes 'Gleichheit aller vor
dem Gesetz' sehr lange Zeit beides. Erst seit Anfang der 90er Jahre bahnt sich
im Zuge der Demokratisierung und der sich hierdurch geradezu zwangsläufig
ergebenden 'Politisierung von ethnischen Beziehungen' durch politische Parteien
eine stärkere Beachtung der Ureinwohner-Kulturen, Sprachen- und Rechte an. 3b. Mögliche soziokulturelle
Gründe für das Interesse von Han-Männern an Ureinwohnerfrauen: Zur engen
Beziehung von Diskriminierung und Exotismus Zuletzt möchte ich nun noch einmal auf die Frage der 'Freier-Motivation'
zurückkommen, d.h. besonders auch auf die Frage, was Han-Männer über
ökonomische Faktoren hinaus dazu veranlassen könnte, ein besonderes Interesse
für Ureinwohner-Frauen zu entwickeln. Meines Erachtens deutet vieles darauf
hin, daß es in Taiwan mit dem Entstehen einer neuen Art von 'sexueller
Subjektivität' auch zu einer veränderten Wahrnehmung der Ureinwohner-Frauen
kam. Wie bereits erwähnt, hat es in Taiwan aus historischen und
kulturellen Gründen schon sehr lange einen hohen Bedarf an Prostituierten und
auch an minderjährigen Prostituierten gegeben. Bei der Betrachtung der Gründe
für die heutige Ausbreitung des Prostitutionsgewerbes in Taiwan muß das
Fortbestehen bestimmter traditioneller Geschlechter- und Sexualauffassungen
durchaus als ein wichtiger Faktor in Rechnung gestellt werden. Wichtig zu
erkennen ist aber auch, daß es durch die Berührung mit anderen Kulturen als der
chinesischen, insbesondere mit der westlichen, gleichzeitig auch zu einem
Wandel in Bezug auf das kam, was als erotisch, sexuell erstrebenswert oder als
sexuell notwendig wahrgenommen wurde. Wie stark sich Erotik- und Sexualvorstellungen in Taiwan heute am
Westen orientieren, zeigt z.B. ein Blick in die Anzeigen- und Reklameteile von
Zeitungen und Zeitschriften. Hier sticht einerseits die außerordentliche
Häufigkeit von Inseraten für Liderweiterungs- und Brustoperationen mit
Abbildungen vollbusiger europäischer Frauen ins Auge. Parallel hierzu findet
sich eine wahre Flut von Annoncen für potenzfördernde Mittel mit Abbildungen
muskelbepackter westlicher Männer, die in Bezug auf die bei ihnen vorgestellte
sexuelle Ausdauer und Kraft ein anzustrebendes Idealbild darzustellen scheinen. Aber auch in der pornographischen Literatur ist die Tendenz zum
Vergleich mit dem Westen auffallend und läßt einen immer wieder auf geradezu
grotesk anmutende Äußerungen stoßen. So fiel mir in einer der an Straßenständen
erhältlichen Ratgeberlektüren für Männer folgende Bemerkung auf: "Der Leser wird
bei seinen Reisen in der ganzen Welt vielleicht die Erfahrung gemacht haben,
daß in den Nachtschränkchen einiger Hotels stets Kondome für Männer beigefügt
sind. In den Hotels östlicher Länder, in denen Reis das Hauptnahrungsmittel
darstellt, werden in der Regel nur ein bis zwei Kondome beigefügt. In Europa
und den USA hingegen ist es jedes mal eine halbe Schachtel. Daraus kann man
entnehmen, daß es um die Potenz der westlichen Männer ganz offensichtlich
besser bestellt ist." Hier manifestiert sich
also eine unterschwellige Furcht dahingehend, den gewachsenen Ansprüchen - u.U.
auch denen der eigenen Frauen - nicht mehr zu genügen. Der Vergleich mit dem
Westen, aber auch das Entstehen neuer gesellschaftlicher Strukturen, die die
traditionelle Vormachtstellung des Mannes in Frage zu stellen und aufzulösen
begannen, wie etwa die voranschreitende Emanzipation der Frauen in Taiwan - all
dies hatte zur Folge, daß sich der taiwanesische Mann heute in seiner Position
zunehmend verunsichert fühlt. Welche Bahnen sich diese Verunsicherung dann
brechen kann, wird von einem der Kritiker von 'Han-Chauvinismus' und
Minderjährigen-Prostitution so kommentiert: "Findet die 'Großartigkeit' von uns Han wider Erwarten Bestätigung dadurch, daß wir unsere eigenen Landsleute unterdrücken? Indem wir die Ureinwohner-Frauen auf die unterste Ebene des Menschenfleischmarktes stellen, schaffen wir uns den Beweis, selbst nicht von niedriger Herkunft zu sein." Während hier also darauf hingewiesen wird, daß die Hinwendung zu
Ureinwohner-Frauen womöglich auch der Sublimierung gewisser Ängste dient, üben
Ureinwohner-Frauen auf Han-Chinesen heute allerdings meines Erachtens noch eine
andere Art von Anziehungskraft aus.
Diese Anziehungskraft mag sich zum einen aus dem inzwischen vielfach als
hübsch eingestuften Äußeren dieser oft sehr großäugigen und gutfigurierten
Frauen ergeben. Darüber hinaus aber gibt es Anzeichen, daß die allgemein mit
den Ureinwohnern verbundenen Vorstellungen von Primitivität, Wildheit,
Gesetzlosigkeit und sexueller Zügellosigkeit - also diejenigen pejorativen
Attribute, die die Grundlage zur Diskriminierung dieser Bevölkerungsgruppe
darstellen - bei zunehmender Infragestellung der eigenen Kulturposition einem
Bedeutungswandel unterliegen und besonders im Bereich der Sexualität einer
regelrechten Fetischisierung weichen. Ein Indiz, welches in Taiwan auf einen solchen Prozeß hindeutet,
ist z.B. die starke Widersprüchlichkeit, mit der die Einschätzung der
Ureinwohner in der Öffentlichkeit und in den Medien vorgenommen wird. Bei der
Hervorhebung bestimmter Eigenschaften - Eigenschaften, die mit dem
durchschnittlichen Han-Chinesen nicht in Beziehung gesetzt werden - gibt es
zwei Arten von Stereotypisierungen, die auf eine negative Wahrnehmung der
Ureinwohner einerseits und eine positive andererseits hindeuten. Als negative Attribute werden "Dummheit",
"Rückständigkeit", "simpler Verstand, jedoch gut entwickelte
Gliedmaßen", "kein Unterschied zu Tieren", "ohne
Intelligenz" und "Wildheit" herausgestellt. Weiterhin wird durch
die Medienberichte immer wieder auf die moralische Sittenlosigkeit der
Ureinwohner, besonders in Bezug auf Sexualität, hingewiesen. Auf der anderen Seite aber werden als typische Eigenschaften auch
"Schlichtheit und Naivität" sowie "Leidenschaftlichkeit und
Ungehemmtheit" angegeben. Betont wird stets die Schönheit dieser Menschen,
hingewiesen wird auf die großen Augen, die ausgeprägten Gesichtszüge, die
gesund wirkende Hautfarbe (besonders die relativ helle Hautfarbe der Atayal).
Weiterhin spricht man den Ureinwohner eine besondere Begabung in Bezug auf
Tanz- und Gesangsdarbietungen zu, Fähigkeiten, die in starker Weise
romantisiert werden und sich in Taiwan großer Beliebtheit erfreuen. Bei den
weitaus meisten Medienberichten über Ureinwohner handelt es sich um
Darstellungen ihrer fröhlichen und ausgelassenen Feste, gleichzeitig berichtet
wird allerdings auch über die fremden und geheimnisvollen Riten, die bei ihnen
beobachtet werden können. Während dem Ureinwohner also einerseits der Status des
unzivilisierten Wilden zugesprochen wird (er also zur Antithese dessen wird,
als was man sich selber gerne betrachtet), wird er auf der anderen Seite - da
er mit Qualitäten ausgestattet ist, nach denen man sich selber sehnt - als
etwas Erstrebenswertes verklärt und exotisiert. Diese Qualitäten sind Schlichtheit,
Leidenschaftlichkeit und Ungehemmtheit, in Verbindung mit der durch das
Eindringen westlicher Schönheitsideale immer stärker wahrgenommenen wilden und
gesunden Schönheit dieser Menschen sowie einer nicht zu unterschätzenden
Romantisierung und Mystifizierung bestimmter kultureller Eigenheiten, ein
Phänomen, welches als Folge einer zunehmenden 'Entzauberung' der eigenen
Lebenswelt verstanden werden kann. So wird, indem auf die schlechten Sitten des
'Wilden' hingewiesen wird - z.B. auf die Promiskuität oder das Überschreiten
von Inzest-Tabus - seine ontologische Andersartigkeit und seine
Gegensätzlichkeit zum normalen Menschen hervorgehoben, was ihn zu einem Objekt
degradiert, mit dem je nach Bedürfnis, Gewissen und Wunsch umgegangen werden
kann. Andererseits aber verbindet sich die vorgestellte moralische
Sittenlosigkeit zugleich mit der Vorstellung einer physischen
Übermenschlichkeit. In Europa gewann die Beschäftigung mit dem `Barbaren' und seinem
attraktiven Doppelgänger, dem `Edlen Wilden', stets dann an Interesse, wenn
sich der Mensch in der eigenen Kultur nicht mehr fraglos geborgen fühlte. Bei
einem Blick auf die jüngste taiwanesische Vergangenheit wird deutlich, daß auch
die ambivalente Haltung, die die Han heute im Umgang mit Ureinwohnern einnehmen,
in einer solchen Krise des kulturellen Selbstverständnisses wurzeln kann. So
hat es für die auf Taiwan lebenden Menschen während der letzten hundert Jahre
nie die Möglichkeit zu einer einwandfreien kulturellen Zuordnung gegeben - ein
Zustand, an dem sich bei Fortdauer der ideologischen Differenzen zwischen
chinesischer und taiwanesischer Regierung bis heute wenig geändert hat.
Stattdessen hat das massive Eindringen westlicher Lebensweisen und
Vorstellungen - bei nur bedingt stattfindender Anerkennung Taiwans durch den
Westen - eher noch zu einer Verstärkung des verbreiteten Gefühls kultureller
Heimatlosigkeit geführt. Dabei bekommt das Individuum die Last beider
Zivilisationen deutlich zu spüren: einerseits noch weitgehend in den
Beschränkungen eines konfuzianischen Moral- und Ethiksystems gefangen, hat es
sich auf der anderen Seite in den Leistungswettlauf der modernen westlichen
Welt einzupassen. Die Vorstellung von einem Menschen, der sich diesen
Anforderungen nicht zu fügen braucht und dabei nach wie vor im gesunden,
unverdorbenen Zustand natürlicher Daseinsharmonie und Wildheit verweilt, muß so
auch in Taiwan zunehmend als verlockend empfunden werden. Zum Gegenstand des
libidinösen Interesses kann ein mit solchen Vorstellungen behaftetes Wesen dann
werden, wenn der Wunsch, es sich in seiner ungezügelten Wildheit untertan zu
machen, mit dem Verlangen einhergeht, in den Besitz der diesem Wesen
nachgesagten Kraft und Gesundheit zu gelangen. Man erinnere sich in diesem
Zusammenhang an die potenzfördernden Mittel, die in Huaxijie erworben werden können: auch sie werden oft aus dem
Körpermaterial von Tieren gewonnen, die dem Menschen sehr gefährlich werden
können. Setzt man die Vorstellung von einer wilden, ungezügelten Sexualität bei den Ureinwohnern nun in
Beziehung zu bestimmten, in Taiwan noch beobachtbaren Elementen der
traditionellen Sexualauffassung, kann noch eine weitere Vermutung geäußert
werden: Bei dem weiterbestehenden Bedürfnis von Han-Männern, zur Erhöhung der
eigenen Langlebigkeit und Zeugungskraft eine Stärkung von "yang" zu erreichen, und zwar durch
reichliches Heranziehen von "yin",
findet eine Verschiebung des libidinösen Interesses auf die Ureinwohner-Frau
statt, die man in ihrer Wildheit und Ungehemmtheit als Trägerin eines ganz
besonders starken und gesundheitsfördernden "yin" wahrnimmt. 6. Maßnahmen von
Regierungsseite Was Maßnahmen gegen das Problem der Ureinwohner- und Minderjährigen
von Regierungsseite aus anbelangt, so wurde vom Innenministerium im März 1989 ein
'Sonderprojekt zur Korrektur der öffentlichen Moral' eingerichtet. Auch hatte
man sich 1989 zur Verabschiedung des 'Soziale Fürsorge-Gesetzes für
Minderjährige' entschlossen, wonach die Behörden angehalten waren, jeden Fall
von sexuellem Verkehr mit unter 18-jährigen zu verfolgen und Sorge um die
Betroffenen zu tragen - allein war die Zahl der minderjährigen
Ureinwohner-Prostituierten bei einer Studie, die 1991/1992 vom 'Garden of Hope'
mit Unterstützung des Innenministeriums durchgeführt hatte, immer noch
erschreckend hoch, es wurde sogar eine aufsteigende Tendenz verzeichnet: Von
ca. 220.000 Prostituierten in Taiwan waren ca. 60.000 minderjährig, davon waren
20-25% Ureinwohner, die Hälfte von ihnen waren Opfer von Menschenhandel. Von
den 330 im Zeitraum 1989 bis 1994 in der von der Regierung eingerichteten
Mädchen-Umerziehungsstelle Yunlin aufgefangenen Mädchen waren 1/3 Ureinwohner.
Als wesentlicher Grund für das Fehlschlagen der Regierungspolitik bei der
Bekämpfung der Minderjährigen-Prostitution wird von den Frauen- und
Menschrechtsgruppen die mangelhafte Strafverfolgung benannt. Da kaum eine der
von der Polizei aufgegriffenen minderjährigen Prostituierten zugibt, zur
Prostitution gezwungen worden zu sein, sondern sich als 'freiwillig' ausgibt,
bleiben sowohl Menschenhändler als auch die Kunden minderjähriger Prostituierte
meist auf freiem Fuß - eine weitere Verschlimmerung des Problems ist somit
abzusehen. 1995 wurde ein Gesetz zur 'Verhinderung des Sex-Handels mit Kindern' verabschiedet. ANHANG Wu Tiantai, 1993, Diskussion der Frage der
Minderjährigen-Prostitution bei den Ureinwohnern aus dem Blickwinkel der
Erziehung, in: Guojiao yuandi, Nr.44, 1993:4-9 (deutsche Zusammenfassung). Die
Ureinwohner-Minderjährigenprostitution ist auf eine Vielzahl sich einander
bedingender erzieherische, gesellschaftliche, wirtschaftliche, kulturelle,
psychologische sowie internationale Faktoren zurückzuführen. Die taiwanesische
Ethnologin Wu Tiantai ist vom Blickwinkel der Erziehung her um eine Analyse des
Problems bemüht. Sie geht auf folgende Einfluss-Faktoren näher ein: 1.
Fehlerhafte Selbsteinschätzung (ziwo
piancha zhi guannian) 2.
Familienprobleme (jiating wenti) 3. Mängel
bei der Schulerziehung (xuexiao jiaoyu de
queshi) 4. Soziales
Umfeld (tongchai yu shequ de fengqi) 5.
Sozio-ökonomische Einflüsse (shehui
jingji de yingxiang) 1. Fehlerhafte Selbsteinschätzung (ziwo piancha zhi guannian) a)
Kindliche Pietät (xiaosun er 'ziyuan'
xisheng) b)
Freiwillige Prostitution (ziyuan maiyin)
(z.B. weil die Bordellmutter den Mädchen das Gefühl echter Fürsorge gibt; weil
luxuriöses Leben in den Bordellen vermutet wird; weil Arbeit einfach und
anregend erscheint - anders als langweilige und erlebnislose Arbeit in den
Fabriken). c) Aus
Unwissenheit (wuzhi) (Verführung
durch den Freund; Neugierde; verkappte Sexualeinstellungen wegen mangelhafter
Sexualerziehung; auch Unwissen in Bezug auf die eigenen Rechte, z.B. illegaler
Status des Prostitutionsvertrages). 2. Familienprobleme (jiating wenti) Zerbrochene
und zerrüttete Familienverhältnisse, mangelhafte Fürsorge (posui jiating; meiyou jieshou wanzheng de guanhuai). a)
Generationenlücke in der Erziehung (gedai
jaioyu): Weil die Eltern gestorben sind oder in den Städten arbeiten,
werden Kinder von Großeltern auf dem Land aufgezogen -> mangelhafte Bildung,
u.a. auch, weil die Kommunikation in Bezug auf Sprache und Denkweise schwer
fällt. Den Großeltern fehlt es an Autorität, den nur gelegentlich
zurückkehrenden Eltern um so mehr. Die Familiensozialisation erleidet dadurch
einen Einbruch bzw. fehlt tw. gänzlich. b)
Erziehung durch nur einen Elternteil (danqin
jiating) c) Kinder
werden als Ware betrachtet (zinü wei wu),
weil man sie als eigenes Eigentum handelt. d)
Unzureichende Erfahrung beim Umgang mit Geld (bu shan li cai). e)
Nachlässigkeit und zu große Toleranz bei der Erziehung (bu shan jiaoyang) 3. Mängel bei der Schulerziehung (xuexiao jiaoyu de queshi) Schlechte
Zeugnisse, als Resultat von a)
Schwierigkeiten bei der Umstellung auf die neue sprachliche-, kulturelle- und
gesellschaftliche Umgebung beim Wechsel von der Familie in die Grundschule (jiaoyu bu lianxuxing); b)
Ungenügende Abstimmung entsprechender Lehrmaterialien. Stattdessen werden die
Ureinwohner-Schüler dem Konkurrenzkampf mit Han-Komilitonen überlassen. Häufige
Erfahrung der Frustration (jiaocai bu
peihe); c) Fehlende
und schlechte Lehrkräfte in Berggebiets-Schulen. Außerdem meist mangelhaftes
Verständnis der Lehrer in Bezug auf die Ureinwohner-Kulturen. Fehlen von
regionen-spezifischen, landeskundlichen Lehrmaterialien. Ohne Einbeziehung
unmittelbarer Lebenserfahrungen kann das Lerninteresse der Schüler nicht
geweckt werden. Die Lehrer halten Ureinwohner-Schüler für dumm - infolge dessen
sinkt die Lernmotivation bei den Schülern (shizi
queshi). d)
Schulabbruch und Schwänzen (chuoxue). 4. Soziales Umfeld (tongchai yu shequ de fengqi) a)
Eitelkeit (aimu xurong); b)
Zweifelhafte soziale Kontakte (shejiao
xianjing); c) Menschenhandel
(Polizisten, Volksvertreter und Lehrer machen mit Eltern gemeinsame Sache) (guan shang qin goujie). 5. Sozio-ökonomische Einflüsse (shehui jingji de yingxiang) a) Die
meist mangelhafte Berufsausbildung ist einer der Gründe, der oft zum Bankrott
ganzer Familien führt (jingji pochan)
(das Durchschnitts-Einkommen bei der Ureinwohner-Bevölkerung liegt bei nur 40%
des taiwanesischen Durchschnittseinkommens). Diese Situation wird außerdem noch
verschärft durch die unter Ureinwohner verbreitete Auffassung, dass
Prostitution weniger schlimm als Armut sei (xiao
pin bu xiao chang). b) Nach dem
Zusammenbruch der sozialen Kontrolle in der Herkunftskultur übt sich die
Berührung mit schlechten gesellschaftlichen Beispielen oft negativ aus
(promiskuitive Eltern, Sex-Videos, Karaoke-Mode) (chuantong de sangshi). c) In der
Han-Gesellschaft gibt es eine Vorliebe für junge Mädchen (youchi xinli). Die helle Haut der Atayal-Frauen ist besonders
beliebt. Neugierde und Minderwertigkeitskomplexe bei den Kunden sowie die
Auffassung, daß der Verkehr mit Minderjährigen der Vitalitätsstärkung diene und
geringere Gefahren in Bezug auf Geschlechtskrankheiten berge, verstärken das
Interesse der Han an den Ureinwohnermädchen (cibu ji shao xingbing). d) Die
Gesetze sind mangelhaft und unzureichend (faze
tai qing); die Gesetzesvollstreckung weist Lücken auf (zhifa bu li). Hinzu kommt die soziale Duldung des Freierverhaltens
in der Han-Gesellschaft und der negative Einfluß der Massenmedien. Abhilfe- und Verbesserungsmöglichkeiten Wu Tiantai
schlägt deshalb vor, dass es zu einer intensiveren Zusammenarbeit von Volk,
Schulen, Polizeistellen, Gerichten, Krankenhäusern, sozialen
Fürsorge-Einrichtungen und Administrationsinstanzen der Gemeinden kommen muss,
um Defizite bei der Primärsozialisation künftig besser auszugleichen. a)
Heranbildung eines neuen Erziehungsverhaltens bei Ureinwohner-Eltern durch
Volkshochschulunterricht etc. (jiaqiang fumu chengzhang ji qinzhi jiaoyu). b) Noch
mehr Nachdruck auf Aus- und Weiterbildung der weiblichen Bevölkerung an den
Schulen (jiaqiang funü jiaoyu). c)
Anleitungen und Hilfestellungen in Bezug auf Schulbesuch und Berufswahl;
Re-edukation von Prostituierten in speziellen Fürsorge- und
Unterrichtseinrichtungen (jiaqiang jiuxue
jiuye fudao). d)
Verbesserung der Schulerziehung (gaijin
xuexiao jiaoyu); e)
Verbesserung der Kommunikation zwischen Familienhaushalten und
Schuleinrichtungen (jiaqiang jiating yu
xuexiao zhi lianxi); f)
Förderung der Erwachsenenbildung (tuiguang
chengren jiaoyu). g)
Betreiben gesellschaftlicher Aufklärung (tuixing
shehui jiaoyu) zur Korrektur/Purifizierung der gesellschaftlichen Moral (jinghua shehui fengqi).
Gesellschaftliche Aufklärung über die Unangemessenheit der Duldung pädeophiler
Prostitutionskunden, verschwenderischer Lebensgewohnheiten und
Rassendiskriminierung. Bewusstseinsbildung dahingehend, dass staatliche
Exekutivorgane bei Säuberungsaktionen etc. überwacht werden müssen. Außerdem
muss für den Aufbau von Selbstbewusstsein und Eigenständigkeit im Handeln und
Denken bei der Ureinwohner-Bevölkerung gesorgt werden und das Bewusstsein für
mehr Gleichberechtigung in der Gesamtbevölkerung gestärkt werden, um dem
bisherigen Teufelskreis Herr zu werden. LITERATUR Literatur in westlichen Sprachen
De Vos, George/Hsu Mutsu, 1985, "Minority Status and Coping
Strategies: An Illustration from Korean Japanese and Taiwanese
Aborigines", in: Proceedings of the International Conference on Border
Area Studies, April 1985, Taipei, 1985:1619-1640. Gronewold, Sue, 1982, Beautiful Merchandise: Prostitution in
China 1860-1936, The Institute for Research in History and the Harworth Press,
1982. Hsu Mutsu, 1991, Culture, Self, and Adaption - The Psychological
Anthropology of Two Malayo-Polynesian Groups in Taiwan, Academia Sinica,
Taiwan, 1991. Linck-Kesting, Gudula, 1979,
Ein Kapitel chinesischer Grenzgeschichte, Han und Nicht-Han im Taiwan der
Qing-Zeit 1683-1895, Wiesbaden, 1979. Rudolph, Michael, 1993,
Die
Prostitution der Frauen der taiwanesischen Bergminderheiten - Historische,
sozio-kulturelle und kultur-psychologische Hintergründe, (LIT Verlag)
Hamburg/Münster 1993. Truong, Thanh-Dam, 1990, Sex, Money and Morality, Prostitution
and Tourism in Southeast Asia, London und New Jersey, 1990. Van Gulik, R. H., 1974, Sexual Life in Ancient China, Leiden,
1974. White, Hayden, 1986,
Auch Klio dichtet oder die Fiktion des Faktischen: Studien zur Tropologie des
historischen Diskurses, Stuttgart, 1986. Wolfe, Barnard, 1980, The Daily Life of a Chinese Courtesan
climbing up a tricky ladder (with a Chinese Courtesan's dictionary), Hong Kong,
1980. Wu, Yau-Fong, 1988, "Taiwan's Aboriginal Administration Policy", in: Southeast Journal of Social Science, Vol.16, No.2, 1988:61-75.
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